Von Anna Hoben
Als Brigitta Grödel nach der Hofpause die Treppe zum Klassenzimmer hochgeht, kommen Kinder von rechts und von links, zupfen sie am Arm und rufen: „Hallo, Frau Grödel“. Brigitta Grödel, rotblond gefärbte Haare, Lehrertasche unter dem Arm, lacht ihr verschmitztes Lachen.
Sie könnte jetzt gemütlich zu Hause am Küchentisch sitzen und frühstücken. Sie könnte im Garten herumwerken. Oder ihren Hobbys nachgehen und etwas töpfern oder malen. Stattdessen geht Brigitta Grödel lieber zur Arbeit. Vor ein paar Tagen ist sie 69 geworden.
Seit dem 18. März unterrichtet Grödel an der Grundschule Coswig-West. „Unterrichtsversorgung“ heißt das Programm der Landesregierung. 30 Lehrkräfte sind dafür seit September 2012 im Kreis Meißen befristet eingestellt worden – vor allem Lehramtsabsolventen vor dem Referendariat und Lehrer im Ruhestand. Sie sollen Unterrichtsausfall vermeiden helfen – oder ihn zumindest abfedern.
Im ersten Schulhalbjahr 2012/13 sind in Sachsen insgesamt 4,4 Prozent aller Unterrichtsstunden ausgefallen. Diese Zahl nennt das Kultusministerium. Auch der Landesschülerrat hat an weiterführenden Schulen eine entsprechende Erhebung durchgeführt. Im Kreis Meißen dokumentierten neun Schulen den Ausfall in einem Zeitraum von zwei Wochen. Demnach liegt die Ausfallquote im Kreis bei 7,68 Prozent. Für fast die Hälfte dieser Stunden gab es keine Vertretung. Generell jedoch steht der ländliche Raum besser da als die Städte: Hier entfallen weniger Stunden ersatzlos.
Die Grundschule Coswig-West ist in einem riesigen Gebäude untergebracht, viele Räume stehen momentan leer. Platzmangel ist hier kein Problem. Doch wenn mal ein Lehrer krank wird, ist das ein großes Problem. Eigentlich sei der Ausfall an der Schule nicht dramatisch, sagt die Schulleiterin Margitta Schober. Die Kollegen übernähmen ohne zu murren auch Stunden, die über die normale Arbeitszeit hinausgingen. Etwa ein Prozent des Unterrichts sei so im ersten Halbjahr entfallen. Doch das Kollegium ist klein – neun Lehrerinnen und ein Lehrer. Wenn jemand langfristig krank wird, ist es nicht leicht, Ersatz zu finden.
Gegen die Familie durchgesetzt
Deshalb spricht Margitta Schober jetzt von ihrem „Geschenk“. Das hat die sächsische Bildungsagentur ihr gemacht. Als klar wurde, dass eine Kollegin wegen einer Operation mehrere Monate ausfallen würde, fragte die Agentur bei Brigitta Grödel an, ob sie einspringen könnte. Deren Familie konnte der Idee zunächst nicht viel abgewinnen; sie selbst jedoch zögerte nicht lange.
2009 war Grödel in Rente gegangen, mit 65. Danach hatte sie in der Ganztagsbetreuung an der Niederlößnitz-Schule weitergearbeitet. Irgendwie rutschte sie dort in eine dreiwöchige Vertretung hinein. Jetzt ist sie wieder Vollzeitlehrerin. 28 Stunden in der Woche, minus vier Stunden wegen ihres Alters und einer schweren Behinderung. Ihr Vertrag läuft bis zum 30. Juli. Dass sie jetzt wieder ein richtiges Einkommen hat, sieht sie als netten Nebeneffekt: „So kann ich mir mal was leisten, was sonst nicht ginge. Aber wegen des Geldes mache ich das nicht.“
Schon eher wegen der Bestätigung, die sie durch die Arbeit erfährt. „So lange die Schüler nicht sagen, die Alte kommt, ist alles gut.“ In der Schule fühlt sie sich am richtigen Platz, hier kann sie ihr Alter vergessen. Was wäre die Alternative? Sie hat keine Enkel, mit denen sie sich beschäftigen könnte. Der Garten macht zwar Spaß. „Aber auf Dauer füllt mich das nicht aus.“ Seniorentreffen und Kaffeefahrten sind auch nicht ihr Ding. Worüber sollte sie da reden? Über ihre Krankheiten? Jammern liegt ihr nicht. Außerdem ist sie eine Frühaufsteherin. Um halb acht in der Schule sein, das steckt sie locker weg.
Der Job sorgt auch dafür, dass sie geistig flexibel bleibt. Ihr ganzes Lehrerleben lang hat Brigitta Grödel sich fortgebildet, sie hat an anderen Schulen hospitiert und eine Zusatzausbildung im Bereich Lese- und Rechtschreibschwäche gemacht. Die Spezialisierung war für sie auch eine Flucht aus dem starren Korsett des Bildungswesens. „In dem Bereich gab es mehr Freiheiten.“ 25 Jahre unterrichtete sie in Meißen an der Sprachheilschule, wo Kinder mit entsprechenden Lernschwächen damals untergebracht waren. Heute noch verfolgt sie Schulpolitik und Debatten um neue pädagogische Konzepte. Klar arbeite sie frontaler als die jüngeren Kollegen, aber sie mache genauso auch offenen Unterricht.
An diesem Morgen hat sie erst kurz vor Schulbeginn erfahren, dass noch eine Kollegin krank geworden ist. Das bedeutet: Stundenplanänderung. Sachkunde, vierte Klasse, 17 Schüler. Brigitta Grödel blieb ruhig. „Ich habe ja jedes Thema schon einmal gemacht.“ Trotzdem, sagt sie, bereite sie jede Stunde neu vor. „Ich will nicht, dass die Klassenlehrerin später denkt, wir hätten nur rumgegammelt.“
Hinten im Regal im Klassenzimmer stehen gepackte Umzugskisten. Bald stehen in der Schule große Veränderungen an. Die Grundschüler müssen für ein Jahr umziehen, bevor die evangelische Schule nach einer Generalsanierung mit einzieht.
Weniger Stress als früher
In schwungvoller Grundschüler-Schönschrift schreibt Brigitta Grödel das Thema der Stunde an die Tafel: „Pflanzen und Tiere am Gewässer“. Darunter malt sie ein Bild: einen See, Schilf, ein paar Vögel. Sie stellt sich den Schülern kurz vor: „Ihr wisst ja, die Frau Grödel wird da reingeschmissen, wo sie gebraucht wird.“ Dann fängt sie an zu fragen: Welche Gewässer gibt es in Coswig? Und welche Tiere leben dort? An jedem Tisch geht mindestens eine Hand hoch, es ist mucksmäuschenstill.
„Als ich jünger war, habe ich häufiger Stress empfunden“, sagt Brigitta Grödel. Mit 60 hätte sie wegen ihrer Behinderung abschlagsfrei in Rente gehen können. Doch da wollte sie nicht mehr. „Der Zwang war weg, und ich wusste, ich hätte jederzeit gehen können.“ Als sie im März nach ihrer kurzen Pensions-Pause an die Schule zurückkam, fühlte sie sich frisch und ausgeruht. Sie kennt viele Kollegen, die bis ans Limit gehen, Operationen verschieben, damit sie an der Schule nicht ausfallen.
Die Entwicklung der kommenden Jahre sieht sie mit Sorge. Bis zum Jahr 2030 gehen rund drei Viertel aller Lehrer, die derzeit in Sachsen unterrichten, in den Ruhestand. Und es fehlt der Nachwuchs. Vielleicht muss sie noch eine Weile bleiben.