Von Sven Siebert, Berlin
Die Attacke kam unerwartet. Vor allem von unerwarteter Seite. Ausgerechnet der von Grünen und SPD für sein Amt nominierte Bundespräsident setzte am vergangenen Wochenende einen Gegenakzent zur schwarzen Kanzlerin. Ausgerechnet Joachim Gauck machte in einer Rede zur Flüchtlingspolitik den Satz „Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich“ zu seiner zentralen Botschaft. Und er ließ damit Angela Merkel, deren wichtigste Parole „Wir schaffen das“ lautet, dastehen, wie eine Regierungschefin der halben Wahrheiten.
Und ausgerechnet Gauck, in dessen Rede die erwarteten Probleme der Flüchtlingsintegration – Wohnungsmangel, Betreuungsengpass, Lehrermangel, Fundamentalismus und religiös motivierte Gewalt – breiten Raum einnehmen, sprach aus, was in Merkels eigener Partei halblaut vor sich hin rumort.
Der CDU-Innenpolitiker und Talkshow-Stammgast Wolfgang Bosbach äußerte Bedenken hinsichtlich der Integrationsfähigkeit der Einwanderer in den deutschen Arbeitsmarkt: „Die Zweifel werden immer größer, und sie sind berechtigt.“ Ex-Innenminister Hans-Peter Friedrich sagte: „Die allermeisten Bürger sehen und wissen, dass die Integrationskraft jeder Gesellschaft, jedes Staates irgendwo an eine Grenze kommt.“ Der CDU-Wirtschaftsexperte Klaus-Peter Willsch sagte: „In der Partei und an der Basis ist die Euphorie längst nicht so groß wie an der Parteispitze und im Kanzleramt.“
Und die sächsische Bundestagsabgeordnete Veronika Bellmann schrieb, Merkel habe „den Flüchtlingen international sozusagen den Marschbefehl gegeben“ und so „manchem Stamm-Unionisten ohne Vorwarnung den Boden der politischen Heimat unter den Füßen weggezerrt“.
Unfreiwilliges Gegengewicht
Es fällt auf, dass die Zitierten sich auch schon in der Frage der Griechenland-Rettung offen gegen die Kanzlerin gestellt hatten. Aber das, was sich als Motiv durch die Äußerungen der „üblichen Verdächtigen“ zieht – alles verlaufe ohne Ordnung, unter Vernachlässigung oder gar Missachtung europäischer und deutscher Übereinkünfte und Gesetze – beschäftigt viele Unionsleute. Nur geben die nicht alle Interviews oder schreiben Gastbeiträge.
Merkel hat darauf reagiert. In ihrer Regierungserklärung in der vergangenen Woche hat sie sehr viel über Grenzkontrollen und Flüchtlingsregistrierung, über Verfahrensbeschleunigung und die „konsequente Durchsetzung notwendiger Rückführungen“ gesprochen. In ihrer Fraktion hatte sie zuvor „Signale der Ordnung“ angekündigt. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) hat auch deshalb vergangene Woche im Bundestag aus den eigenen Reihen so viel Beifall bekommen, weil er als Gegengewicht zur Kanzlerin erscheint – das er gar nicht ist und noch weniger sein will. Aber de Maizière hat Grenzkontrollen eingeführt und in einer Talkshow gesagt, mit der Entscheidung, Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland zu holen, sei die Sache „außer Kontrolle geraten“.
Der Minister hat sich beeilt zu erläutern, dass dies nicht als Kritik an Merkel zu verstehen gewesen sei. Dass er nur beschrieben habe, was auch die Kanzlerin so sehe: Es seien so viele Flüchtlinge auf einmal gekommen, „dass es nicht mehr geordnet ging“. Nun sei man dabei, „die Dinge wieder zu ordnen“.
Das Problem ist, dass viele in der Unionsfraktion die Zuversicht, dass dies gelingt, nicht teilen. Der von Merkels Leuten verbreitete Merksatz, in der gegenwärtigen Krise gebe es keine einfachen Antworten, wird von manchen als Hinweis darauf verstanden: Die Chefin hat keinen Plan. Oder noch schlimmer – wie von München aus verbreitet wurde –, sie wolle „ein anderes Land“.
Es geht um die Grundfrage, ob sich der Strom der Menschen, die nach Deutschland kommen, stoppen lässt. Oder ob es nur möglich ist, ihn abzuschwächen und halbwegs vernünftig zu lenken.
In der Union ist die Sehnsucht nach Ordnung groß. Und die Zweifel an der Kanzlerin sind bei denen umso größer, die meinen, Merkel habe mit missverständlichen Gesten und Äußerungen die Flüchtlingsbewegung erst richtig in Gang gebracht und so die Unordnung geschaffen.
Deswegen gibt es weiter Widerstand gegen eine Gesundheitskarte für Asylbewerber. Dabei herrscht gar kein Streit um die ohnehin auf das Mindestmaß beschränkten Gesundheitsleistungen. Es wird die Befürchtung geäußert, die Ausgabe von Gesundheitskarten werde noch mehr Menschen nach Deutschland locken.
Stichtagsregelung für Syrer
In der Fraktion wird außerdem diskutiert, ob man nicht eine Art Stichtagsregelung für Syrer schaffen könne. Die, die hier seien, würden schnell als Flüchtlinge akzeptiert, die, die noch kommen, erhielten entweder wieder ein ordentliches Asylverfahren oder könnten gar nach den EU-Regeln von Dublin nach Österreich oder Ungarn zurückgeschickt werden.
Doch Merkel unterstützt diese Idee nicht. Sie setzt auf längere Prozesse. Was jetzt geschehe, seien nur erste, wenn auch wichtige Schritte. Diese Botschaft reicht manchen ihrer Parteifreunde nicht.