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Die SIM-Karten-Wege

Seit Montag machen sich die fast 400 Einwanderer von Niederau auf den Weg Richtung Meißen und Weinböhla.

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© Claudia Hübschmann

Von Peter Redlich

Niederau. Der schmächtige junge Mann mit der weißen Kunstlederjacke und dem großen Smartphone, der immer wieder auf sich zeigt und Syria sagt, braucht Hilfe. Niederaus Bürgermeister Steffen Sang (parteilos) kommt da gerade richtig beim Nach-dem-Rechten-Sehen vorm Ex-Real-Markt. Sang soll dem Fremden, der mit seiner jungen Frau und einem noch nicht ein Jahr alten Säugling am Wochenende in der 1 800-Seelen-Gemeinde eingetroffen ist, helfen, dessen Verwandte in Deutschland anzurufen. Der Bürgermeister versucht die Zahlen des Morgenlandes in einheimische, die eigentlich arabische sind, zu übertragen. Es misslingt. Schließlich lässt Steffen Sang den Mann selbst auf dem Bürgermeisterhandy wählen. Leise spricht der die Zahlen mit – in albanischer Sprache.

Ein anderer junger Mann kann etwas englisch. Wo es denn SIM-Karten gibt, will er wissen. Dreieinhalb Kilometer in die Richtung nach Meißen oder genauso weit Richtung Weinböhla, zeigt ihm der Bürgermeister den Weg. Keine Stunde später startet auf den beiden Routen eine kleine Völkerwanderung Richtung Elbecenter in Meißen und zur Gemeindemitte in Weinböhla.

362 Einwanderer im ehemaligen Real-Markt

Gerade einmal 24 Stunden sind die meisten der bis gestern Nachmittag 362 Einwanderer im Niederauer Ex-Real-Markt einquartiert. Bundeswehrbusse aus Bayern und Chemnitz haben sie hergebracht in die Erstaufnahmeeinrichtung.

In der Nacht zum Sonnabend hatte es hier Randale gegeben. Inzwischen hat sich der Protest gelegt. Zumindest äußerlich. Eine Rentnerin kommt mit dem Fahrrad vorbei und sagt, dass sie dem Bürgermeister danke für dessen Einsatz für die Niederauer – auch wenn es nicht so gekommen sei, wie das die meisten gewollt hätten. Steffen Sang nickt und sagt der Frau, dass sie jetzt so anständig wie möglich – eben ohne Randale – mit der Situation klarkommen müssten.

Er hat sich auch schon Gedanken gemacht. Sang: „Die meisten gefühlten Sorgen machen sich die Bürger um den Schulweg zur Grundschule nach Weinböhla, der genau am Real entlangführt.“ Sang habe bereits mit Landrat Arndt Steinbach (CDU) gesprochen und wolle hier Ein-Euro-Jobber als Patrouille aufstellen. Landrat Steinbach sagt, dass das auch klargehe und veranlasst sei. Jetzt müssten sich aber noch Bürger finden, die das auch machen.

Drin in der großen Ex-Einkaufshalle wuselt inzwischen das Leben. Die DRK-Helfer haben mit Stellwänden kleine Bereiche geschaffen, die Nationalitäten trennen sollen. Syrer, Afghanen, Pakistaner, Iraker und Menschen aus Afrika sind unter den Neuankömmlingen. Viele Christen seien dabei, hat Bürgermeister Sang erfahren. Er wolle mit Pfarrer Matthias Fischer reden, damit für diese Menschen die Möglichkeit bestehe, am Gottesdienst in Niederau teilnehmen zu können.

Gebetsräume für Muslime

Auch für Muslime, so die Anregung von Sang und Landrat Steinbach, solle die Möglichkeit zum Gebet eingeräumt werden. Nicht im Freien, sondern in Räumen in den oberen Etagen, wo die Büros im Real-Markt waren. Steinbach und Sang sind sich einig, dass so viel wie möglich getan werden müsse, um sachlich mit der neuen Situation umgehen zu können. Mit den noch zu erwartenden weiteren drei Bussen fast 500 Menschen ins Niederauer Leben einzubeziehen, das sei ohnehin nicht möglich.

Steffen Sang sagt, dass er darauf baue, dass die für November angesagten Bundesbeschlüsse dann auch wirklich umgesetzt würden. Nämlich, die Einwanderer in der Erstaufnahme zu belassen und die, die bestätigt bleiben dürfen erst dann auf die Kommunen zu verteilen, und jene, die abgewiesen werden, auch wirklich konsequent abzuschieben.

Darauf wollen aber nicht alle hier in Niederau warten. Eine Familie samt Koffer marschiert zum Bahnsteig neben dem Real-Markt. „To Hamburg“ rufen sie im Vorbeigehen. Ein anderer hat sich ein Taxi bestellt und will auch wieder hier weg.

Für die Mehrzahl der in Niederau Aufgenommenen indes hat der Heimaufenthalt gerade begonnen – mit einem Päckchen für Frauen, Kinder und Männer, einem Schlafsack, einer Liege für jeden und einer Chipkarte, auf der die Registrierung festgehalten ist. Tee und andere Getränke gibt es immer. Mit der Karte kann Essen geholt werden, die Zeiten stehen in allen notwendigen Sprachen auf Zetteln an der Wand. „Mit der Chipkarte sehen wir wenigstens, wer noch da ist“, sagt Bürgermeister Sang und zeigt dem nächsten Fragenden den SIM-Kartenweg.