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Die springenden Rentner

Im Sommer kommen europaweit die Felskletterer auf ihre Kosten und erproben, was sie im Wintertraining mit oder ohne künstlicher Kletterwand an Leistung erhalten oder hinzugelegt haben. Im tschechischen...

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Von Frantisek Vydra

Im Sommer kommen europaweit die Felskletterer auf ihre Kosten und erproben, was sie im Wintertraining mit oder ohne künstlicher Kletterwand an Leistung erhalten oder hinzugelegt haben. Im tschechischen Liberec (Reichenberg) lebt ein Ehepaar, das sein ganzes Leben – ob Winter oder Sommer – dem Bergsteigen gewidmet hat. Und das schon eine ganze Weile: Beide sind Mitte 60, Rentner und ganz schön rüstig.

Denn die beiden klettern nicht nur durch Felsen – sie nehmen manchmal die Abkürzung durch die Luft. Zorka Prachtel ist eine in ganz Nordböhmen bekannte Felsspringerin. Aber damit nicht genug. Vor zwei Jahren fand in der Schweiz ein Filmfestival der Felskletterer und Alpinisten statt. Einer der erfolgreichsten Streifen hieß „Jump“ und wurde mit dem Ehepaar Prachtel gedreht. Dabei gab es selbstverständlich nur Live-Einstellungen, alles über schwindelnden Abgründen und ohne Hilfsmittel.

Nach dem Diavortrag schnell aufs Matterhorn

Ungefährlich ist die Springerei nicht. Zorka hat sich schon mal beide Arme gebrochen. Nach der Genesung machte sie jedoch weiter. Zorka Prachtel ist eher introvertiert und vor Publikum die Stillere, während Ehemann Petr die erklärenden Worte zu Dias oder Filmen spricht. Beide nutzen das Winterhalbjahr, um ihren geliebten Sport oder ihr geliebtes Hobby anderen Menschen nahe zu bringen.

Und so erfahren wir von Petr, wie er damals in der Schweiz den Festivalaufenthalt ausnutzen und das Matterhorn allein bezwingen wollte. Auch hier mag er weltweit nicht der Einzige sein, doch die Begleitumstände nötigen allen Respekt ab: Kurzentschlossen ging er mit Rucksack und Helm, ohne sonstige Ausrüstung, den Berg an. Ab 3 000 Meter Höhe zwickte der Frost, obwohl bis knapp darunter die Bergblumen blühten – es war Hochsommer. Einige entgegenkommende Bergsteiger wollen ihm sein Vorhaben ausreden, doch er stieg allein weiter. Dann brach die Dunkelheit an und etwa 200 Meter unterm Gipfel waren seine Hände so kalt, dass der Verstand siegte und er sein Ziel aufgeben und absteigen musste.

Verlorene Hände? Die Wahrsagerin lag falsch

Dabei stieg in ihm die Erinnerung an die Worte einer Wahrsagerin hervor, die Tage vorher von verlorenen Händen gesprochen hatte. Amputation und ewige Frostwunden als unausbleibliche Folgen waren ihm gut bekannt, und er beeilte sich im nächtlichen Rückzug. Gegen zwei Uhr erreichte er erschöpft und hungrig die erste Herberge. Sein Helm und auch den Rucksack hatte er über die Abgründe rutschen sehen, sonst war er wohlauf, der zähe, tapfere alte Herr, wie die Jungen ihn bestaunten.

Schade für ihn war dabei nur, dass der Lebenswunsch, diesen Berg zu besteigen, nicht in Erfüllung gegangen war. Ebenso wie der Traum, gemeinsam mit Frau Zorka den höchsten Berg der Erde, den Mount Everest zu erklimmen. An Mut, Leistungsfähigkeit und Ausdauer, auch am Geld hat es nicht gelegen, dass die beiden in jungen Jahren ihren Traum angehen und wahr machen konnten. Es lag vielmehr an der Herkunft Petrs, er stammte aus einer deutschen Familie mit Verwandten jenseits der tschechoslowakischen Grenze. Deshalb durfte er nicht ausreisen.

Nun hat Petr Prachtel keineswegs aufgegeben, im Gegenteil. Voriges Jahr, anlässlich seines 64. Geburtstages, überraschte er nicht nur die Gäste, als er sagte: „Ich werde in einem Jahr 64 Felsen und Wände im Isergebirge nachweisbar erklettern.“ Das hat er dann auch getan.