Von Lars Kühl
Das Hochhaus am Ziel kann Iris Handke schon sehen. An der 40-Kilometer-Marke ist die Freitalerin gerade vorbei. Die Schmerzen im Knie, das Ziehen im Rücken, die unzähligen Blasen an den Füßen sind wieder da. Nur noch gut 1 000 Meter trennen die 60-Jährige am Montag von ihrer Medaille. „Doch auf einmal kam der ganze Pulk zum Stehen“, erzählt sie gestern nach ihrer Rückkehr. „Ich wusste überhaupt nicht, warum.“ Als sich Iris Handke umschaut, blickt sie in entsetzte Gesichter. Die meisten hängen am Handy. „Ich habe mich noch gefragt, wieso die alle gleichzeitig telefonieren.“ Und immer wieder diese furchtbare Traurigkeit. „Die können doch nicht alle gleichzeitig eine Schreckensnachricht bekommen haben?“
Doch hatten sie; Boston, wo seit 1897 der älteste jährliche Marathon ausgetragen wird, ist Opfer eines Anschlages geworden, bei dem drei Menschen sterben und weit über 100 verletzt werden.
Hat sie einen Knall gehört? „Ich bin mir nicht sicher. Die Begeisterung am Straßenrand war einfach zu laut.“ Iris Handke weiß nicht, was los ist. Sie versteht das Stimmenwirrwarr um sie herum nicht. Endlich findet sie einen Deutschen, der nachfragt. „Es hieß, eine Bombe ist am Ziel hochgegangen.“ Alle stehen da und schauen sich entsetzt an. Hubschrauber tauchen am Himmel auf. Die Sirenen von Krankenwagen, der Polizei und Feuerwehr sind plötzlich überall. Aus den Häusern strömen die Bostoner mit Decken und Getränken. In den Sportlern steigt Unruhe auf. „Aber Panik habe ich keine gehabt“, sagt Iris Handke. Langsam sickert durch, dass zwei Bomben im Zielbereich hochgegangen sind. Und dass es Tote und Verletzte gibt.
Im Hotel angekommen, gibt es nur ein Thema auf den Fernsehkanälen. In der Nacht erreichen die Freitalerin erste Anrufe und Nachrichten von Verwandten und Freunden aus der Heimat. Sie kann sie beruhigen.
Am Dienstag bekommt sie vor der Abreise in die Heimat auf einer abgesperrten Straße ihren Garderobenbeutel zurück. Und ihre Medaille. Der Mann, der sie ihr übergibt, nimmt Iris Handke in den Arm. Die Anspannung fällt ab.