Von Jörg Marschner
Wenn Montagnachmittag kurz vor fünf die Glocken der Nikolaikirche über das Zentrum von Leipzig tönen und die Leute zum Friedensgebet rufen, ist ihr Läuten eigentlich mehr symbolisch. Denn zu diesem Zeitpunkt ist die Kirche mit ihren zwei Emporen in der Regel längst schon bis auf den letzten Platz gefüllt. Den dann immer noch Hineinströmenden bleibt nur der breite Mittelgang. Vorn platziert sich die Jugend im Schneidersitz, dahinter dicht an dicht die Stehplatzwilligen. Und wenn eine knappe Stunde später die weit über tausend Menschen die Kirche verlassen, ist die Nikolaistraße bis weit hinunter zum Brühl im abendlichen Dunkel schon voller Menschen und ein langer, eindrucksvoller Demonstrationszug mit vielen ganz persönlichen Transparenten gegen einen möglichen Irakkrieg formiert sich. So wird das kommenden Montag sein, so war das vorigen Montag, als knapp 15 000 Menschen durch die Altstadt zur Oper zogen – trotz Rosenmontag!
Die „Dresdner Friedensaktion“, die am heutigen Sonnabend auf dem Schlossplatz der Landeshauptstadt ihre Friedenswoche mit einer Antikriegsdemonstration abschließen wird, rechnet mit 5 000 Teilnehmern. Vielleicht werden es mehr, vielleicht auch weniger. Denn den montäglichen Friedensweg von der Dreikönigskirche über die Elbe zur Kreuzkirche nahmen zuletzt nur 500 Menschen. Leipzig tickt da anders.
Die Leute in der ersten Reihe
Meist läuft in der ersten Reihe der Leipziger Demonstration eine kleine schwarz gekleidete Frau mit. Nake Flock heißt sie, von Beruf Dolmetscherin, geboren in der Sowjetunion, aufgewachsen im Kinderheim, nachdem ihr Vater – ein Wissenschaftler – ermordet wurde, 1960 mit ihrem deutschen Mann in die DDR gekommen. Sie hat schon im Sommer und im Frühherbst 1989 an den Friedensgebeten teilgenommen, „als wir noch wenige waren und voller Unsicherheit und Angst“. Sie war am 9. Oktober unter den 70 000, die über den Ring zogen und mit ihrer Forderung „ohne Gewalt“ Polizei und Militär entgegentraten. Ende Oktober 1989 forderte sie auf einer Kundgebung in Anwesenheit eines Ministers den Rücktritt des SED-Politbüros. Solche Erfahrungen wirken weiter. Und da sollte sie jetzt still sein und zu Hause sitzen? „Ich bin gegen jede Diktatur, auch gegen Saddam Hussein, aber ein Präventivkrieg kann zu ihrer Beseitigung kein Mittel sein“, sagt die Christin Nake Flock.
Immer in der ersten Reihe laufen Isa Kreft, 38, und Jürgen Jentsch-Krämer, 65, beide vom „Aktionskreis Frieden“. Sie kümmern sich um das Organisatorische, um die Anmeldung der Demo, um Redner, um Musikgruppen. Und gemeinsam tragen sie das große Transparent „Kein Krieg! Keine Unterstützung!“ Isa Kreft, eine promovierte Chemikerin, steht voll im Berufsleben, arbeitet in einer Softwarefirma. Jentsch-Krämer studierte in der DDR, ging 1957 in den Westen, machte sich dort selbstständig, verdiente gut, kam Anfang der 90er nach Leipzig zurück. Kreft und Jentsch-Krämer haben das, was Leipzig 1989 zur Heldenstadt machte, nur aus der Ferne erlebt. Aber es wirkt auch bei ihnen weiter. „Die Leute, die jetzt mit uns auf die Straße gehen, können sich das erste Mal seit Jahren wieder als politische Subjekte fühlen. Sie tun selbst etwas, schauen nicht nur zu“, sagt Isa Kreft. Und Jentsch-Krämer meint: „Wir haben doch nur den Frieden als Alternative, der Krieg mit seinen modernen Mitteln ist doch Wahnsinn.“ Wenn nicht berufliche Termine dagegen stehen, ist auch ein Mann mit leuchtend rotem Haarschopf in der ersten Reihe zu sehen: Sebastian Krumbiegel von der Popgruppe „Die Prinzen“. Natürlich bringt er auch seine Kinder mit, das Jüngste trägt er auf den Schultern. „Ich habe noch Hoffnung auf eine friedliche Lösung im Irak, sonst wäre alles zynisch, was wir tun“, sagt der 36-Jährige. Er freut sich, „dass Leipzig so eine wache Stadt ist, womit ich nichts gegen Dresden sagen will, aber die Tradition und die Mentalität sind in Leipzig wohl doch etwas anders“ als in der einstigen Residenzstadt.
Ein Unbequemer für die Mächtigen
Nicht wegzudenken aus der ersten Reihe ist der eher kleine Mann mit der grauen Haarbürste: Pfarrer Christian Führer. Die rechte Hand reckt das kleine Papptransparent mit den Worten „Keinen Krieg No war“ und dazwischen das bekannte Schwerter-zu-Pflugscharen-Symbol aus den 80er Jahren, in der Linken trägt er den Aktenkoffer, beklebt mit Symbolen der Umwelt- und Friedensbewegung, neben ihm geht seine Frau. So war es schon im Herbst 1989. Vorhin beim Friedensgebet hat er mit dem Blick auf die Ereignisse vor nunmehr bald 14 Jahren gesagt: „Wir haben erfahren dürfen, dass Gott ermöglichte, was wir selbst nicht für möglich hielten.“ Das ist seine Erfahrung und die vieler Leipziger, auch vieler, die nicht an Gott glauben.
Mit Jeans, Weste und dunkelblauem Rollkragenpullover steht Führer vor der großen Friedensgebetgemeinde. Spricht davon, dass der Irak Raketen verschrottet, dass das türkische Parlament die Stationierung von 60 000 US-Soldaten abgelehnt hat, wertet das als Zeichen, dass Frieden noch möglich ist. Beifall. So sehr wie er sich auf die Bergpredigt Jesu bezieht – „Selig sind, die Frieden schaffen“ –, so wenig scheut er das offene politische Wort. „Mit das Schlimmste für mich ist die pseudoreligiöse Sprache, die Bush für seine Kriegsbegründung nutzt“, sagt der Pfarrer. Da wäre Bush den islamistischen Fundamentalisten gefährlich nahe. Führer scheut auch nicht den Witz: Als die Orgel nicht rechtzeitig einsetzt, weil sie noch verschlossen ist, kommentiert Führer ironisch unter Verwendung eines alten SED-Slogans: „Der Klassenfeind schläft nicht.“ Lachen. Und Führer macht der Gemeinde Mut, als er erzählt, dass ihm ein Bekannter jetzt die „New York Times“ mitgebracht habe. Jene, die einst den Kommunismus gestürzt hätten, würden jetzt die Amerikaner ärgern, habe das Blatt geschrieben. „Wir werden also wahrgenommen mit unserem Einsatz für den Frieden“, sagt Führer, der schon immer ein Unbequemer für die Mächtigen war.
1986/87 fand in seiner Kirche der Arbeitskreis „Hoffnung für Ausreisewillige“ ein Dach, 1988 folgten die Gesprächsabende „Leben und Bleiben in der DDR“ mit der Forderung nach Reformen, immer im Blick der Stasi, immer bedroht von Repressalien. Dann die 89er Herbstwochen mit der großen Wende und der Nikolaikirche als einem Zentrum. Auch in den 90er Jahren blieben die montäglichen Friedensgebete Tradition, oft im kleinen Kreis. Mit nur 18 Mann begannen am 1. Weihnachtsfeiertag 2002 in der Nikolaikirche die Mahnwachen gegen einen möglichen Irakkrieg. Mit dem Ruf „Keine Gewalt, kein Krieg“ holt Führer die Leute in die Kirche und 15 000, ja 20 000 auf die Straße.
Friedliche Amerikaner zum Vernaschen gern
Die erste Reihe dieser Demonstrationen ist nichts Konstantes. Je nach Straßenbreite wird sie enger oder ufert aus. Und oft setzt sich die Jugend davor, 200, 300, 400 Schüler, Lehrlinge, Studenten. „Eins, zwei, drei und vier, für Frieden weltweit kämpfen wir“, skandieren sie lautstark. „Neun und zehn, Bush muss gehn.“ Nicht nur Leipziger sind es, die zum Augustusplatz vor die Oper marschieren. Peter Bienert, Geschäftsführer der Cryotec GmbH Bennewitz bei Wurzen, trägt mit dem bei ihm im Praktikum stehenden Studenten Kay Kupfer das selbst hergestellte Transparent „Leipzig kommt. Kein Krieg in Irak!“ „Ich will mir nicht vorwerfen, nicht alles versucht zu haben“, sagt Bienert. Chemnitzer stehen auf dem Platz. „Bei uns zu Hause sind wir nur wenige Hundert. Das geht unter. Leipzig wird wahrgenommen“, sagt einer. Am Rand der Kundgebung verkauft Florian Spindler „friedlich süße Amerikaner“. Er und sein Bruder Tobias von der Evangelischen Jugend Anhalts hatten die Idee, das bekannte Gebäck mit dem Friedenszeichen zu versehen. In einer Großbäckerei und der Landesbäckerinnung Sachsen-Anhalt fanden sie schnell Verbündete. „Wir haben die Amerikaner zum ,Vernaschen‘ gern, aber nur wenn sie friedlich sind und auch bleiben“, sagt Florian Spindler. Die 400 Amerikaner gingen weg wie nichts, diesen Montag wollen die jungen Leute weit mehr mitbringen.
Leipzig tickt anders. Das hat es schon unermüdlich und mit originellen Einfällen den Neonazis um Christian Worch klar gemacht, bis die auf weitere Demos in der Messestadt verzichteten. Wie intensiv Bürgerrechte wahrgenommen werden, zeigt auch der starke Protest gegen die Landesregierung, die der Stadt und der Uni entgegen früherer Absprachen den Wiederaufbau der auf Geheiß Walter Ulbrichts 1968 gesprengten Paulinerkirche aufoktroyieren wollen.
Und weil all das in Leipzig so ist, wird aus dieser Stadt urplötzlich so etwas wie eine Hauptstadt der deutschen Friedensbewegung. Alle Stadtratsfraktionen bis auf die der CDU haben sich inzwischen per Unterschrift hinter die montäglichen Friedensaktionen gestellt.