Dieser Schiedsrichter glaubt an den Video-Beweis

Herr Sather, Sie sind als Schieds- und Linienrichter, vierter Offizieller und Video-Assistent, kurz VAR, im Einsatz. Was macht am meisten Spaß?
Um Spaß geht es nicht. Jede Aufgabe ist mit einem gewissen Anspruch verbunden. Aufgrund der jahrelangen Erfahrung identifiziere ich mich mit der Position als Schiedsrichter und -Assistent, aber natürlich darf man sich neuen technischen Entwicklungen wie dem Video-Assistenten nicht verschließen, zumal er eine Unterstützung für uns Schiedsrichter auf dem Platz ist und den Fußball ein Stück weit gerechter macht.
Seit dieser Saison gibt es den Videobeweis in der 2. Bundesliga. Wie hat sich die Arbeit als Schiedsrichter verändert?
Der Umgang mit dem Video-Assistenten ist nicht komplett neu für mich, weil ich als Schiedsrichter-Assistent in der Bundesliga schon Erfahrungen damit gesammelt haben. Die Arbeit hat sich dahingehend verändert, dass man an der einen oder anderen Stelle bedachter in Situationen geht, um bei schnellen Spielflüssen auch Checks zu ermöglichen. Wenn die Partie zum Beispiel durch einen schnellen Einwurf weitergeführt würde, gäbe es die Möglichkeit der Überprüfung nicht mehr. Und man muss deutlich kommunikativer vorgehen. Früher habe ich Situationen gesehen und nur für mich oder mit meinen Assistenten bewertet. Jetzt muss ich das über mein Headset auch nach Köln übermitteln, damit der Video-Assistent weiß, auf welcher Wahrnehmung ich meine Entscheidung getroffen habe und anhand des vorliegenden Bildmaterials entscheiden kann, ob eine klare und offensichtliche Fehlentscheidung in einer der vier spielentscheidenden Kategorien vorliegt.
Welche sind das?
Die vier Kategorien sind Torerzielung, Strafstoß, Rote Karte und Spielerverwechslung. Das wird alles geprüft. Es muss also kein Trainer oder Spieler nach einem Treffer oder einer Strafstoßentscheidung das Monitorzeichen in die Luft zeichnen und eine Überprüfung einfordern. Das Gleiche gilt bei Roten Karten und auch bei potenziellen Platzverweisen. Vielleicht habe ich nur eine Berührung am Fuß gesehen, die für eine solche persönliche Strafe nicht ausreicht. Der Video-Assistent hat mithilfe der unterschiedlichen Kameraperspektiven gesehen, dass meine Wahrnehmung zwar richtig ist, ich aber ein klares Schieben, Zerren oder Schlagen übersehen habe – dann greift er ein. Und um Spielerverwechslungen zu vermeiden, muss ich klar sagen, wen ich verwarnen will. Als Beispiel: Bei Rudelbildungen spreche ich die Spieler deutlich an, damit der Video-Assistent gegebenenfalls eingreifen kann, weil vielleicht die Nummer sieben statt der Nummer 17 hätte verwarnt werden müssen.

Das heißt, Köln meldet sich nicht einfach mal so?
Doch, auch das passiert. Aber nur dann, wenn ich etwas überhaupt nicht mitbekommen habe, weil es abseits des Geschehens – zum Beispiel hinter meinem Rücken – stattgefunden hat.
Spüren Sie einen besonderen Druck, weil man Sie bei einem Fehler ertappen könnte?
Ich vergleiche das immer mit einem Fallschirm oder Airbag. Der Airbag kann den Zusammenstoß zwar nicht verhindern, aber er mildert ihn deutlich. Beim Fallschirm bin ich im freien Fall unterwegs und kurz vor dem Aufprall zieht mir einer das Seil, sodass ich noch halbwegs behutsam landen kann. Es ist gut zu wissen, dass man einen Airbag hat, der einen vor größeren Schäden bewahren kann, aber am besten ist man unterwegs, wenn man ihn gar nicht braucht. Das steht sinnbildlich für den Video-Assistenten. Wenn der Schiedsrichter eine Entscheidung revidieren muss, liegt ja ein klarer und offensichtlicher Fehler vor, der zu keiner guten Bewertung des Schiedsrichters führen kann.
Wie sind Ihre Erfahrungen bislang?
Ich habe bislang fünf Spiele mit Einsatz des Video-Assistenten geleitet, zuletzt am vergangenen Wochenende das Spiel zwischen Regensburg und Wehen Wiesbaden. Dabei kam es zu einem vermeintlichen Treffer, bei dem der Torschütze knapp im Abseits stand. Es war eine faktische Entscheidung, die mithilfe des Video-Assistenten getroffen wurde und den Fußball gerechter macht. Denn: Abseits ist Abseits.
Die Regel „Im Zweifel für den Angreifer“ gibt es also nicht mehr?
Diese Regel gab es noch nie. Wenn wir als Schiedsrichter-Team bei der Bewertung von Abseitspositionen Zweifel auf dem Platz haben, können wir die Szene weiterlaufen lassen und bei einer potenziellen Torerzielung so die Möglichkeit des Checks offenhalten. Über Funk wird dabei vom Assistenten signalisiert: ,Ich habe ein Abseits gesehen‘, und er sagt dann: „Delay“. Die Fahne bleibt aber erst einmal unten. Wenn die Überprüfung durch den Video-Assistenten ein anderes Ergebnis bringt, wird der Treffer durch den Schiedsrichter annulliert. Aber nur mit dem verzögerten Fahnenzeichen ist das System sinnvoll. Damit haben wir uns angefreundet.
Ist der mediale Druck bei umstrittenen Videoentscheidungen jetzt ein anderer?
Natürlich wird nach einem Bundesliga-Wochenende weiter diskutiert. Aber jetzt wird eher über ein System geschimpft, nicht mehr auf einen Schiedsrichter persönlich. Dadurch ist der Druck weniger geworden, vielleicht auch, weil man jetzt noch mehr als Team agiert. Und manchmal hat die Kritik auch mit der fehlenden Kenntnis der Regularien zu tun. Zum Beispiel bei der Frage: Warum greift der Video-Assistent bei einem Foul, das eigentlich mit einer Gelben Karte zu ahnden gewesen wäre, nicht ein? Weil es nicht zu den vier genannten Parametern gehört und damit nicht Aufgabe des Video-Assistenten ist.

Wie ist es, wenn man sich am Spielfeldrand, von Zuschauern beobachtet, strittige Szenen noch einmal anschaut?
Es ist von Stadion zu Stadion unterschiedlich, wie weit die Zuschauer vom Bildschirm weg sind. Aber das Drumherum blende ich aus. Ich bin viel konzentrierter, weil ich mich gedanklich frei machen muss. Denn ich muss die Bilder, die mich vor ein paar Sekunden zu einer Entscheidung gebracht haben, aus einem anderen Blickwinkel noch einmal ansehen und neutral bewerten.
Ihr Vater Harald Sather war selbst Schiedsrichter und als Assistent auch international tätig. Beneidet er Sie um die Neuerungen?
Auf der einen Seite schon, weil man – wie schon gesagt – früher mehr mit seinem Namen für Fehlentscheidungen gestanden hat. Aber eigentlich ist beneiden das falsche Wort. Das Spiel ist schneller geworden, es hat andere Anforderungen.
Mit wie vielen technischen Hilfsmitteln gehen Sie in ein Zweitligaspiel?
Angefangen haben wir mit Funkfahnen. Wenn der Assistent die hebt, vibriert am Arm des Schiedsrichters ein schwarzes Kästchen. Weiter ging es mit dem Freistoßspray, und dann kam das Headset. Dadurch waren bis zur Einführung des Video-Assistenten der Schiedsrichter, seine Assistenten und der vierte Offizielle miteinander verbunden. Das ist inzwischen um die Verbindung ins Video-Assist-Center in Köln ergänzt worden. In der ersten Liga gibt es dank der Torlinientechnologie auch noch eine Uhr, die vibriert und piept, wenn der Ball die Linie komplett überschritten hat. Inzwischen erhält man die Information eines Treffers auch noch von einer Computerstimme übers Headset.
Wie kann man sich die Abläufe vorstellen, wenn sie als Videoassistent im Kölner Keller sitzen?
Wir verwenden den Begriff Keller nicht. Das Video-Assist-Center – kurz VAC – ist ein topmodernes Studio mit professionellen Arbeitsbedingungen. Dort gibt es für jedes Spiel einen Operator, der für die technischen Aspekte verantwortlich ist. Dieser kümmert sich also darum, dass die Verbindung des VAC ins Stadion steht, dass die Kalibrierung der Abseitslinien funktioniert und die Kameras nicht durch äußere Einflüsse wie Wind oder Regen beeinträchtigt werden. Der Operator spielt einem auch die besten Bilder zu. Wenn ich also sage, ich brauche eine Abseitslinie im Strafraum oder eine Zeitlupe aus der Hinter-Tor-Perspektive, dann liefert der Operator, der in der Bundesliga noch einen Assistenten hat, das auf einen sogenannten Splitscreen. Dort kann man sich gleichzeitig maximal vier Bilder einspielen lassen. Für die fachliche Bewertung, also die Beurteilung der Spielsituationen, gibt es den Video-Assistenten und dessen Assistenten, die zwei Stunden vor dem Anpfiff dazukommen.

In der 2. Liga sind Sie jetzt als VAR für die Kommunikation mit dem Schiedsrichter auf dem Feld zuständig. Wie war das in den vergangenen Jahren?
Da ich nur die Zulassung als Schiedsrichter für die 2. Bundesliga habe, war ich in der Bundesliga als Assistent-Video-Assistent (AVA) eingeteilt und in erster Linie für die Bewertung von Abseitssituationen verantwortlich. Auch im VAC gibt eine klare Aufgabenverteilung. Wichtig ist das vor allem für die Hintergrundchecks, die während des laufenden Spiels durchgeführt werden. Während ich als Video-Assistent schon prüfe, ob es zum Beispiel ein strafstoßwürdiges Foul gegeben hat, behält mein AVA das Spiel im Blick und verfolgt den Funkkontakt zwischen dem Schiedsrichter und mir – auch wenn wir nebeneinandersitzen. Das kann man sich vorstellen wie in einem Cockpit, wir sitzen da mit großen Kopfhörern und Mikrofon, um nicht von äußeren Einflüssen abgelenkt zu werden.
Was passiert, wenn auf einmal drei oder noch mehr Situationen parallel zu beleuchten sind?
Das passiert schon mal. Man macht sich den Druck dann meist selbst, weil man so schnell wie möglich zu einem Ergebnis kommen will. Aber wenn Gründlichkeit und Schnelligkeit aufeinandertreffen, gibt es meist nur einen Sieger: Richtigkeit. Die Leute wissen nicht, was für ein hochkomplexer Job gemacht werden muss. Deswegen wird ja auch auf den Stadionleinwänden angezeigt, was gerade geprüft wird. Bei einem Tor kann es eben darum gehen, ob es im Vorfeld ein Handspiel gegeben hat. Aber vor dem möglichen Handspiel wird ja zum Beispiel schon auf Abseits geprüft.
Wie wird denn der Videobeweis unter den Schiedsrichtern bewertet?
Der Video-Assistent ist unter uns Schiedsrichtern absolut unumstritten. Denn alle, die einmal damit gearbeitet haben, werden sagen, dass es eine Erleichterung ist. Das ist wie bei einem Journalisten. Wenn der noch an einer Schreibmaschine sitzen müsste und sich in der letzten Zeile auf einer Din-A4-Seite vertippen würde, hätte er keine Möglichkeit der Korrektur mehr. Dank des Computers ist das aber gar kein Thema mehr. Natürlich haben wir auch Verständnis dafür, dass sich Außenstehende erst an diese Neuerung gewöhnen müssen.

Was halten sie von Markus Merks Vorschlag, den beiden Trainern sowie dem Schiedsrichter pro Spiel zwei Möglichkeiten der Überprüfung strittiger Szenen zu erlauben?
Das ist eine Frage der Strategie. Also: Wie setzen wir das System Video-Assistent am besten für uns ein? Ich halte von dem seit Langem in der Diskussion stehenden Challenge-Prinzip nicht viel. Macht es das Spiel gerechter, wenn wieder eine Person entscheiden muss? Was passiert, wenn ein Trainer bei seinen Einspruchsmöglichkeiten danebenliegt, die Entscheidungen des Schiedsrichters richtig waren und die Challenges verwirkt sind, es in der 88. Minute aber beim Stand von 0:0 zu einer Strafstoßentscheidung kommt? Macht es das gerechter, oder wollen wir uns bloß den Schwarzen Peter zuschieben? Für mich ist die derzeitige Anwendung die sinnvollste. Über das Prinzip der Challenge und den Umgang damit muss darüber hinaus das IFAB und die FIFA übergeordnet entscheiden, wir Schiedsrichter oder der DFB können hier keinen eigenen Weg gehen.
Sie stehen in dieser Saison schon bei 32 Einsätzen. Sind sie jetzt gefragter als in den Vorjahren?
Ja, das bin ich. Es kommt nicht selten vor, dass wir im Doppeleinsatz sind. Denn der Video-Assistent muss immer ein Schiedsrichter sein, der auch in dieser Spielklasse unterwegs ist. Wir sind 20 Zweitliga-Referees, jedes Wochenende gibt es neun Spiele. Da ist man jede Woche entweder als Schiedsrichter oder als Video-Assistent im Einsatz. Und dabei darf kein Zweitliga-Referee in der ersten Liga als Assistent fungieren oder als Schiedsrichter in der 3. Liga antreten. Deswegen funktioniert es ohne Doppeleinsätze nicht, was aber auch gut ist. Wäre man nur alle sechs Wochen mal wieder als Video-Assistent aktiv, stünde man mangels Kontinuität jedes Mal wieder vor einer großen Herausforderung.
Das Interview führte Cornelius de Haas.