„Wer bin ich – ohne Sport?“

Dresden. Sie hätte allen Grund, unzufrieden oder sogar genervt zu sein. Stattdessen nippt Christiane Reppe entspannt an ihrem Cappuccino, lächelt ihr breitestes Lächeln und kommt zu der Erkenntnis: „Ich genieße irgendwie ein bisschen mein Leben. Darf man das so sagen?“
Darf man. Aus dem Mund einer Leistungssportlerin mag das allerdings etwas befremdlich klingen. Schließlich wäre Christiane Reppe jetzt im Normalfall bei den Paralympics in Tokio und würde sich in der japanischen Hauptstadt an einem historischen Projekt versuchen. Wäre der Dresdnerin in Tokio der Sprung aufs Treppchen im Para-Triathlon gelungen, wäre sie die erste deutsche Sommer-Paralympic-Sportlerin, die in drei verschiedenen Sportarten eine Medaille beim größten Behinderten-Sportfest der Welt geholt hätte.
Vergleichbares hat bisher nur Andrea Eskau geschafft: mit jeweils Gold im Biathlon, Skilanglauf und mit dem Handbike. Als Schwimmerin gewann Christiane Reppe schon 2004 in Athen zweimal Bronze, als Handbikerin 2016 in Rio de Janeiro Gold im Straßenrennen. Zwei Jahre später stieg sie auf den Dreikampf um, bei dem sie ihre beiden Spezialdisziplinen mit dem Rennrollstuhl zum Triathlon verbindet. In Tokio hätte die 33-Jährige mindestens zu den Mitfavoritinnen gezählt. 2019 war sie bereits Europameisterin und WM-Dritte.
Der Höhepunkt ist um ein Jahr verschoben, die Pläne für den Weg dorthin genauso. „Wir werden am Ende die Trainingspläne fast eins zu eins so übernehmen, wie es in diesem Jahr gewesen wäre“, sagt die Athletin, der im Alter von fünf Jahren wegen eines bösartigen Tumors das rechte Bein amputiert werden musste.
Ihre neue Paralympics-Vorbereitung wird die Dresdnerin im Dezember auf Lanzarote starten. Ob ihr Vorhaben angesichts der gerade weltweit steigenden Corona-Zahlen aufgeht? Wer weiß das schon. „Aber planen müssen wir ja trotzdem“, sagt sie. Reppe zweifelt ohnehin dezent an der Austragung der Spiele 2021. „Ich erkenne noch kein richtiges Konzept, wie Olympia und die Paralympics im nächsten Jahr stattfinden können“, sagt sie und verdeutlicht, dass ihr Wohl und Wehe nicht von dieser Entscheidung abhängt. „Ich werde definitiv nicht vor Tokio sagen, dass ich aufhöre. Die Frage, die darauf folgt, ist: Und dann? Die Gedanken mache ich mir, die Paralympics würde ich gern mitnehmen“, sagt Reppe, die für den niedersächsischen Verein GC Nendorf startet.
Urlaub mit der Familie
Reppe nimmt sich nun Zeit für andere Dinge. Sie lernt Ukulele spielen – einmal pro Woche übt sie dafür bei einem Online-Kurs. Sie hat eine Woche Urlaub mit der Familie in Brandenburg gemacht – mit Mama, Papa, den Großeltern, Tante und Onkel. „Diese Zeit zu haben war echt schön“, sagt sie. Auf dem Wakeboard probierte sie sich aus, trifft sich öfter denn je mit Freunden, natürlich hält sie sich auch fit – ein bis zwei Einheiten pro Tag müssen schon sein. „Mir fehlt ein Ziel, das muss ich so sagen. Es gibt doch nicht Besseres für einen Sportler, als wenn er nach einer Pause wieder anfängt, weil er es unbedingt will“, sagt sie. Auf dieses Gefühl warte sie noch.
Für eine Frau, die sonst als Sportlerin die ganze Welt bereist, fühlt sich die jetzige Situation seltsam an. Ihren bislang letzten Wettkampf bestritt Reppe Ende Februar in Tasmanien. „Seither saß ich quasi nur zu Hause, das war für mich völlig neu. Die Tage, an denen ich normalerweise in diesem Jahr in Dresden gewesen wäre, hätte ich an zwei, drei Händen abzählen können, eigentlich nur zum Wäschewaschen“, erklärt sie. Ein Leben aus dem Koffer quasi. „Das habe ich aber bewusst auch so entschieden“, betont sie.
Sie hat ihre Gedanken sortiert. „Wo ist gerade meine Rolle auf dieser Welt? Wer bin ich, was mache ich ohne Sport? Ich habe mir nichts aufgebaut. Mein Leben ist da draußen“, sagt Reppe – und sie zeigt mit dem Finger in Richtung Tür. „Und das findet derzeit nicht statt. Ich weiß jetzt: Ich möchte etwas ändern.“ An ihrem Leben, den Schwerpunkten. „Ich weiß, dass das für viele Menschen schwer zu verstehen ist, aber für mich war die Pause echt gut.“
Die erfolgreiche Athletin ahnt jetzt umso besser, was für sie relevant ist und was nicht. „Spaß-Wettkämpfe wären drin. Aber nur, um einen Wettkampf zu machen, das Bedürfnis habe ich aktuell nicht. Ich trainiere für meine großen Wettkämpfe“, sagt sie. Die gibt es in diesem Jahr nicht. Und deshalb ist ihre Saison bereits beendet – mit Ausnahme von einem Benefiz-Start beim Challenge 2020 im deutschen Triathlon-Mekka in Roth Anfang September. „Ich möchte nicht mehr ganz so viel unterwegs sein, will mir hier etwas aufbauen – einfach ein Leben.“
Alles andere als langweilig
Dazu gehört ab Ende des Jahres auch eine neue Aufgabe: Als Markenbotschafterin für die Invictus-Games 2023 in Düsseldorf. Die Spiele der kriegsversehrten Soldaten werden von einer Stiftung vergeben und ausgerichtet, deren Schirmherr der englische Prinz Harry ist. Für ihren Einsatz als Markenbotschafterin wird Reppe honoriert. Sonst ist sie in der Immobilienfirma ihres Vaters angestellt und arbeitet dort im Marketingbereich.
Außerdem will die Dresdner Handicap-Sportlerin des Jahres im Herbst ein Buch schreiben. Ein grobes Konzept steht. „Eine Autobiografie, wie das alle machen, wollte ich eigentlich nicht. Ich habe mir überlegt, was die Leute für sich rausziehen sollen“, erzählt sie über das Projekt. „Ich wollte die Dinge, die mir passiert sind, in eine große Geschichte einarbeiten. Das ist aber sehr komplex.“ Und kichernd meint sie: „Es könnte jetzt also doch in Richtung langweilig gehen.“
Dabei hat Reppe viele spannende Geschichten und Anekdoten zu erzählen: Etwa die von der Gold-Medaille aus Rio, die ihr bei einer Veranstaltung in Berlin gestohlen wurde – und wie sich Dresdens Oberbürgermeister Dirk Hilbert für Ersatz einsetzte. Oder wie ihr eigener Verband vergessen hatte, sie rechtzeitig für eine WM anzumelden, sie dann kurz vor knapp doch die Startberechtigung erhielt – und zwei Titel holte. Alles andere als langweilig.