SZ + Dresden
Merken

Das Ensemble, das die Wende überlebte

Bis 2009 leitete Anita Bilich in Dresden das Ensemble der Meßelektroniker. Als die sozialistische Unterstützung wegfiel, wurde sie erfinderisch.

Von Henry Berndt
 4 Min.
Teilen
Folgen
Im Kulturpalast begeisterte Anita Bilich mit den Programmen ihres Ensembles Tausende Besucher.
Im Kulturpalast begeisterte Anita Bilich mit den Programmen ihres Ensembles Tausende Besucher. © Marion Doering

Dresden. Sie weiß noch, wie sie an der Haltestelle stand und die Zwerchfellatmung übte. Auf die legte ihre Gesangslehrerin großen Wert. Kurz zuvor hatte sich Anita Bilich kurzentschlossen der Jury  des Zentralen Ensembles der jungen Talente der Stadt Dresden gestellt. "Horch, was kommt von draußen rein" hatte sie gesungen und damit offensichtlich überzeugt.

Damals arbeitete die gelernte Industriekauffrau noch in der Verwaltung des Zentralen Klubs der Jugend und Sportler, der heutigen Scheune auf der Alaunstraße. Das Engagement im Ensemble war Freizeitgestaltung. Mit ihrer dunkel gefärbten Stimme war sie als Solistin vor allem für die heiteren Chansons zuständig. Regisseur war damals übrigens Heinz Rennhack, dem später noch eine große Schauspielkarriere bevorstehen sollte.

Die DDR wollte ihre Bürger zu "allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeiten" erziehen. Dazu gehörte auch die Kultur. Deswegen leisteten sich die großen Betriebe eigene Kulturabteilungen, die Ensembles von beeindruckender Qualität auf die Beine stellten. 

Die Auftritte des Ensembles der Meßelektroniker gehörten zu den Höhepunkten im Kulturkalender.  Wie hier 1989 mit "Kind, wie die Zeit vergeht" im Kulturpalast.
Die Auftritte des Ensembles der Meßelektroniker gehörten zu den Höhepunkten im Kulturkalender.  Wie hier 1989 mit "Kind, wie die Zeit vergeht" im Kulturpalast. © privat

Gleich sechs solcher Gruppen gab es einst in Dresden um Umgebung, unter anderem von Robotron und Pentacon. Anita Bilich erhielt eines schönen Tages im Jahr 1970 das Angebot, als Mitarbeiterin für Volkskunst beim VEB RFT Meßelektronik Dresden einzusteigen. "In meinem jugendlichen Leichtsinn habe ich das auch angenommen", sagt die heute 77-Jährige.

Ihre Zielvorgabe damals: Innerhalb eines Jahres sollte sie aus dem Stand ein Großprogramm auf die Beine stellen. "Ihr müsst doch spinnen", dachte sie. Doch, man ahnt es, genau das sollte ihr gelingen. Im April 1971 feierte "Unser Tag ist voll fröhlicher Lieder" Premiere im Hygiene-Museum. Mit dabei waren neben Solisten und Sprechern auch eine Combo und eine Kindertanzgruppe. Alles Laien, die aber professionell angeleitet und ausgebildet wurden. 

Schnell machte sich das Ensemble der Meßelektroniker unter der Leitung von Anita Bilich einen Namen. Nicht nur in Dresden. Durch das ganze Land tourten die mehrfach ausgezeichneten Programme und das Ensemble wurde um immer neue Höhepunkte erweitert, aus denen sich Anita Bilich nach dem Baukastenprinzip die passenden Nummern aussuchen konnte.

Bald hatte man eine eigene Technikgruppe samt Mischpult, auch Artisten kamen hinzu. Ab 1987 gab es gleich zwei Ballettgruppen. Die aufwendigen Kostüme für die Shows wurden zum Teil in der Oper produziert. An Nichts sollte es Anita Bilich und ihrem kreativen Team fehlen. Bezahlt wurde das alles vom Betrieb. 

Zuletzt wurde das Ensemble der Meßelektroniker für 80 bis 100 Veranstaltungen im Jahr gebucht, reiste nach Polen, in die Tschechoslowakei und bis nach Leningrad. Das letzte große Programm im Dresdner Kulturpalast trug den passenden Titel "Kinder, wie die Zeit vergeht" und wurde 1989 auch von der Sächsischen Zeitung bejubelt.

Auch nach der Wende schuf das Ensemble aufwendige Produktionen. Auf Schloss Albrechtsberg wurde in den 90ern "Mission Impossible" interpretiert.
Auch nach der Wende schuf das Ensemble aufwendige Produktionen. Auf Schloss Albrechtsberg wurde in den 90ern "Mission Impossible" interpretiert. © privat

1990 durfte Anita Bilich für ihr Ensemble noch den Kunstpreis der Stadt Dresden in Empfang nehmen - kurz darauf war sie arbeitslos. "Mir war schnell klar, was die Stunde geschlagen hatte", erinnert sie sich. Schließlich mussten Betriebe von nun an vor allem eines: sich rechnen. 

Auch wenn die finanzielle Basis des Ensembles mit einem Mal weggebrochen war, beschloss sie gemeinsam mit vielen Mitstreitern: Wir machen weiter! Als einziges Ensemble in Dresden wollten sie ihr "Baby" durch die Wendejahre tragen, wenn auch jetzt als Verein, ehrenamtlich geführt, und unter neuem Namen: Saxonia Ensemble. Außerdem wurde man nun Mitglied im Landessportbund.

Doch wie sollte es ganz praktisch weitergehen? Zunächst brauchten die Musiker und Tänzer einen neuen Probenraum, den sie im damaligen Haus der Volksarmee an der Königsbrücker Straße fanden. Die IG Metall, bei der Anita Bilich in dieser Zeit eine ABM-Stelle fand, unterstützte das Ensemble nach Kräften.

Allein der Wegfall der betrieblichen Finanzierung wog schwer. Die Kostüme wurde nun auf dem heimischen Dachboden gelagert. Nach jeder Vorstellung wuschen sie Anita Bilich und ihre Choreographin in der eigenen heimischen Badewanne. "Das war natürlich ein mächtiger Aufwand, aber das war es uns wert."

Erst als die Choreographin, eine international bekannte Persönlichkeit, 2008 starb, starb mit ihr auch die Zukunft des Ensembles. "Es war immer klar gewesen, dass es keine neue Generation geben würde", sagt Anita Bilich. Im Jahr 2009, nach 38 Jahren, schloss sie das größte Kapitel ihres Lebens. 

Geblieben sind ihr unvergessliche Erinnerungen, viele bis heute währende Freundschaften und die Gewissheit, den längsten Atem aller Dresdner Betriebs-Ensembles gehabt zu haben.

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Newsletter "Dresden kompakt" und erhalten Sie alle Nachrichten aus der Stadt jeden Abend direkt in Ihr Postfach.

Mehr Nachrichten aus Dresden lesen Sie hier.