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Die ganze Steinmeier-Rede zum 13. Februar

Das Protokoll der Rede des Bundespräsidenten können Sie hier in voller Länge nachlesen.

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Frank-Walter Steinmeier hielt im Dresdner Kulturpalast eine Rede bei der Gedenkveranstaltung zum 13. Februar.
Frank-Walter Steinmeier hielt im Dresdner Kulturpalast eine Rede bei der Gedenkveranstaltung zum 13. Februar. © David Inderlied/dpa (Archiv)

Vor wenigen Monaten, am 1. September, stand ich im Morgengrauen auf dem Marktplatz einer kleinen Stadt in Polen: Wieluń, den meisten Deutschen wenig bekannt. Gemeinsam mit dem polnischen Präsidenten, in Anwesenheit von trauernden Bürgerinnen und Bürgern, haben wir dort der Bombardierung der Stadt vor achtzig Jahren gedacht. 

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Damals, am 1. September 1939, brachten Sturzkampfbomber der deutschen Luftwaffe Tod und Zerstörung über Wieluń – ohne jede Vorwarnung. Ihr Bombenhagel traf eine ahnungslose, wehrlose und militärisch völlig unbedeutende Stadt. Er zertrümmerte das Krankenhaus, verwüstete den Marktplatz, brannte den Stadtkern nieder, tötete in der ersten Stunde des Krieges 1.200 Menschen.

Die Bomben von Wieluń waren das erste Verbrechen in einem Krieg, den das nationalsozialistische Deutschland in die Welt trug. Sie waren Vorboten des Grauens, das deutsche Selbstüberhebung, deutscher Rassenwahn und deutscher Vernichtungswille in den folgenden sechs Jahren über Europa brachten. Sie markieren den Beginn einer Entgrenzung der Gewalt, die im Zweiten Weltkrieg weit mehr als fünfzig Millionen Menschen das Leben kostete. Der sechs Millionen ermordeten Juden, der Gequälten und Ermordeten in den Konzentrationslagern haben wir erst vor wenigen Wochen in Yad Vashem, Auschwitz und Berlin gedacht. 

Der Angriff auf Wieluń war auch der Auftakt zu einem brutalen Bombenkrieg, in dem die Zivilbevölkerung in den Städten ins Fadenkreuz geriet. Die deutsche Luftwaffe auf der einen, britische und amerikanische Bomber auf der anderen Seite zerstörten im Verlauf des Krieges hunderte Städte in fast allen Ländern Europas. Sie zogen eine noch nie dagewesene Spur der Verwüstung, die von Großbritannien über Deutschland bis nach Russland reichte. Als dieser Krieg im Mai 1945 mit der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus endete, lagen weite Teile des Kontinents unter Asche und in Trümmern.

Heute haben wir uns hier versammelt, um an die Luftangriffe auf Dresden vor 75 Jahren zu erinnern. Wir gedenken der Opfer des Bombenkrieges in dieser Stadt, in Deutschland und in Europa. Und wir gedenken aller Opfer von Völkermord, Krieg und Gewalt. 

Das Inferno, das in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 über Dresden hereinbrach, haben Augenzeugen immer wieder beschrieben. In zwei Wellen bombardierten britische Flugzeuge die Stadt. Brand- und Sprengbomben entfachten einen verheerenden Feuersturm. Als die Amerikaner die Luftangriffe am Aschermittwoch fortsetzten, blickten sie auf eine brennende Stadt.

Heute wissen wir: Bis zu 25.000 Menschen kamen damals ums Leben, große Teile des historischen Stadtkerns und angrenzender Wohnviertel wurden verwüstet. Innerhalb weniger Stunden zerstörten die Bomben vieles von dem, was Menschen hier in Dresden über Jahrhunderte aufgebaut hatten. Wen die Bomben trafen, blieb dabei dem Zufall überlassen. Sie gingen auf Kinder, Frauen und Männer nieder, auf Dresdner und auf Flüchtlinge aus Ostpreußen und Schlesien. Sie fielen auf Soldaten wie auf Kriegsgefangene; auf überzeugte Nazis und Gestapo-Leute wie auf Widerstandskämpfer, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge. Und so zufällig, wie die Bomben zehntausende Menschenleben auslöschten, so zufällig retteten sie auch einige wenige: Jüdinnen und Juden wie Henny Wolf oder Victor Klemperer rissen sich in jener Nacht den gelben Stern von der Kleidung und konnten im allgemeinen Chaos untertauchen oder fliehen. 

Wer den Feuersturm überlebte, war oft körperlich und seelisch schwer gezeichnet. Das Heulen der Sirenen, das unheilvolle Dröhnen der Flugzeuge und das rote Leuchten am Himmel; die Todesangst und die Enge im Keller; die Einschläge der Bomben, das splitternde Glas und die zerberstenden Mauern; das tosende Feuer, das allen Sauerstoff aus Straßen, Häusern und Trümmerhöhlen sog; die verbrannten Menschen und das Skelett der Stadt – unzähligen Augenzeugen sind die Bilder, Geräusche und Gerüche der Schreckensnacht nie mehr aus dem Kopf gegangen. Angst und Ohnmacht haben sich tief in ihre Seelen gefressen. Und wer in den folgenden Tagen mithalf oder als Zwangsarbeiter mithelfen musste, die entstellten Leichen aus den Ruinen zu bergen, auch den hat das Grauen oft nie wieder losgelassen.

Viele haben ihre Erlebnisse in Notizen, Briefen oder Tagebüchern festgehalten und versucht, die bedrückende Last auf diese Art zu bannen. Viele haben ihren Kindern und Enkeln davon erzählt. Manche haben erst Jahre später die Kraft gefunden, über ihre Geschichte zu sprechen – ermutigt auch durch ein neues öffentliches Interesse am Bombenkrieg, durch die Debatten um Leid und Schuld, die wir seit Ende der 1990er Jahre in unserem Land geführt haben.

Hier in Dresden sind es die Stimmen von Dora Baumgärtel und Liesbeth Flade, von Günter Jäckel, Götz Bergander und vielen anderen, die uns von jener Nacht und der anschließenden Not berichten. Viele der Überlebenden sahen ihre Angehörigen nie wieder; hatten ihre Wohnung und ihre persönlichen Erinnerungsstücke verloren; besaßen nur noch das, was sie hatten greifen können, als der Alarm losging. Wer mit dem Leben davongekommen war, der suchte oft verzweifelt Halt auf den Trümmern seiner Heimat.

Manchmal sind es nur wenige Worte, die uns nahegehen. So wie die Worte, die Lina Skoczowsky wenige Tage nach den Angriffen hier in Dresden auf eine Postkarte schrieb:„Lieber Vati! Deine 3 sind zusammen. Alles verloren.“

Nicht nur aus Dresden kennen wir solche Stimmen. Wir kennen sie aus allen deutschen Städten, die während des Zweiten Weltkrieges Luftangriffe erlitten, manche immer wieder. Wir kennen sie aus Lübeck und Hamburg, aus Wuppertal und Köln, aus Pforzheim, Würzburg, Darmstadt und Hannover, aus Berlin und Potsdam, Halberstadt und Magdeburg, aus Rostock, Chemnitz und vielen anderen mehr.

Wir kennen ähnliche Stimmen auch aus Städten in Italien und dem besetzten Frankreich, aus Neapel und Genua, Le Havre und Royan. Wir kennen sie aus den Städten Europas, die von der deutschen Luftwaffe zerstört wurden – aus Warschau und Rotterdam; aus London, Coventry und Liverpool; aus Belgrad, Leningrad und vielen anderen mehr. Und wir kennen sie aus Guernica, der baskischen Stadt, die deutsche Kampfflugzeuge der „Legion Condor“ bereits 1937 in Schutt und Asche gelegt hatten. Wolfram von Richthofen, der später auch den Angriff auf Wieluń befehligen sollte, notierte damals knapp in sein Tagebuch: „Guernica, Stadt von 5.000 Einwohnern, buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht. […] Bombenlöcher auf Straßen noch zu sehen, einfach toll.“

Es war auch dieser menschenverachtende Zynismus, der in die Katastrophe führte. Historische Fotos zeugen heute vom Ausmaß der Verwüstung in ganz Europa. Sie führen uns vor Augen, was damals in unseren Städten – auch hier in Dresden – für immer verloren ging. Sie lassen uns ahnen, wie groß die Leistung vor allem der vielen Frauen war, die unmittelbar nach Kriegsende den Wiederaufbau in Gang setzten, oft mit bloßen Händen. Und ich finde, wir sollten, ja wir müssen auch heute versuchen, die Angst, den Schmerz und die Verzweiflung der Opfer und Hinterbliebenen des Bombenkrieges zu ermessen. 

Mein Dank gilt allen, die hier in Dresden und an vielen anderen Orten unermüdlich mithelfen, die Erinnerung an sie lebendig zu halten – und die sich zugleich denen entgegenstellen, die diese Erinnerung missbrauchen wollen, um Hass und Ressentiments zu schüren. Es ist auch das Verdienst dieser engagierten Bürgerinnen und Bürger, dass wir heute sagen können: Die Opfer des Bombenkrieges sind unvergessen. Ihr Leben und ihr Schicksal sind und bleiben eingeschrieben in unsere kollektive Erinnerung.

Ich bin überzeugt: Wer sich heute mit der Geschichte seiner Familie oder seiner Stadt im Bombenkrieg auseinandersetzt, der kann auch besser nachempfinden, was andere Menschen an anderen Orten erlitten haben. Aufrichtige Erinnerung lehrt uns Mitgefühl. Aufrichtige Erinnerung lässt uns Eigenes wie Fremdes sehen und verstehen. Sie lässt uns Anteil nehmen am Schicksal aller Opfer von Krieg und Gewalt, über nationale Grenzen hinweg. Ich danke allen hier in Dresden, die schon seit Jahren den Blick der Erinnerung weiten und den Austausch mit Städten auf der ganzen Welt suchen, von Coventry bis nach Breslau und Sankt Petersburg.

Wenn wir heute an die Geschichte des Bombenkrieges in unserem Land erinnern, dann erinnern wir an beides: an das Leid der Menschen in deutschen Städten und an das Leid, das Deutsche anderen zugefügt haben. Wir vergessen nicht. Es waren Deutsche, die diesen grausamen Krieg begonnen haben, und es waren schließlich Millionen Deutsche, die ihn führten – nicht alle, aber doch viele aus Überzeugung. Es waren die Nationalsozialisten und ihre willigen Vollstrecker, die den Massenmord an den Juden Europas ins Werk setzten. Und es war das Nazi-Regime, das das Morden auch dann nicht einstellte, als es den Krieg längst verloren wusste. Wir vergessen die deutsche Schuld nicht. Und wir stehen zu der Verantwortung, die bleibt.

Wenn wir heute an den Bombenkrieg erinnern, dann wissen wir auch: Schon damals wurde in Großbritannien und unter den Alliierten die Frage diskutiert, ob die sogenannten Flächenbombardements, bei denen auch zehntausende Soldaten des „Bomber Command“ ums Leben kamen, militärisch sinnvoll, völkerrechtlich erlaubt, moralisch legitim seien. Bis heute beschäftigt diese Frage die Historiker und Philosophen, nicht zuletzt in Großbritannien.

Wir brauchen diesen nüchternen Blick, um zu verstehen, wie es damals zu jener Eskalation der Gewalt kommen konnte. Wir brauchen ihn, um Antworten auf die Frage zu finden, welche Mittel heute geboten und zulässig sein können, um schwere Verbrechen zu beenden. Aber die Frage nach alliierter Schuld führt auf Abwege, wenn sie gestellt wird, um deutsche Schuld zu relativieren. Wenn wir heute der Opfer in deutschen Städten gedenken, dann geht es uns nicht um Anklage, nicht um Vorwürfe und schon gar nicht um Aufrechnung.