"Ich habe rund 2.000 Gesichter gelesen"

Dresden. Donald Trump kommt für sie nicht infrage. Genau so wenig wie die großen Despoten der Geschichte. Angela Merkel hat sie sich zu Gemüte geführt. Auch Romy Schneider, Barbara Schöneberger und Sylvester Stallone. Letzterer war nicht ganz einfach, gibt Anne Fierhauser zu: "Bei so viel Botox im Gesicht könnte man meinen, er eigne sich nicht." Doch auch ihn hat sie "gelesen".
Dass sich Menschen aus der Hand lesen lassen, ist nicht so unbekannt. Auf Märkten und in Praxen bieten hier und da mehr oder weniger Kundige ihre Dienste an. Anne Fierhauser aber ist Gesichtleserin. Sie analysiert die Gesichter von Menschen, um ihre Persönlichkeiten, Lebenswege und Talente zu ergründen.
Möglich machen ihr das 65 Muskeln, 15 Knochen und fünf Achsen, die den Rahmen für unzählige Formen, Kombinationen und Relationen des menschlichen Gesichtes hervorbringen. Im Gesicht steht der Charakter geschrieben und Potentiale lassen sich daraus ableiten. So die Lehre.
Zu ihr gehören zahlreiche, wissenschaftlich nicht anerkannte, Techniken zur Analyse des Kopfes, der Gesichtszüge und seiner Mimik. Esoterisch jedoch nennt Anne Fierhauser ihre Arbeit nicht. "Sie ist sehr physisch und hat jahrtausendealte Wurzeln. Gelehrte sämtlicher Hochkulturen haben sich damit beschäftigt."
"Ich habe wirklich an mir gezweifelt"
Als Anne Fierhauser das erste Mal selbst einen Gesichtleser besuchte, war sie sprachlos. Sie fragte sich, was sich so viele fragen, wenn ihnen ein Astrologe Zusammenhänge zwischen Himmel und Erde erklärt und persönliche Ableitungen für das Hier und Jetzt und die Zukunft trifft: Woher weiß der das alles über mich?
Rund 15 Jahre lang hatte die 39-Jährige zu diesem Zeitpunkt als Werbekauffrau in einem Bad Homburger Unternehmen gearbeitet, dort ihre Ausbildung absolviert und sich zur Führungskraft hochgearbeitet. Doch irgendwann passten ihre Vorstellungen und die der unterdessen neuen Firmenleitung nicht mehr gut zusammen. "Ich habe gekündigt und gedacht, ich finde ohne Probleme einen neuen Job", erzählt sie. Mancher habe das mutig gefunden. Sie selbst nennt es heute eher blauäugig oder arrogant.
Der Plan ging nicht auf. Von 18 Bewerbungen in der Branche bekam sie 18 mal Schweigen zurück. Noch nicht mal Absagen. "Ich habe wirklich an mir gezweifelt und gedacht, was habe ich da bloß falsch gemacht?" Von Freunden und Bekannten ließ sie ihre Bewerbung überprüfen. Doch auch sie fanden keinen falschen Zungenschlag, nichts, was dazu führen müsste, geradewegs in der Rundablage zu landen.
Einigermaßen verzweifelt nahm Anne Fierhauser das Geschenk einer Freundin an: den Besuch bei jenem Gesichtleser. "Er analysierte mein Gesicht und entdeckte neun Talentlinien darin." Neben einem besonderen Zugang zu Menschen, einer ausgeprägten kommunikativen Begabung, Verständnis für Organisation, Struktur und Zahlen las er etwas Entscheidendes in ihren Zügen. Etwas, was sie nicht wusste.
Erfüllung finden, wer will das nicht?
Dass sie gern mit Menschen arbeitet, den Austausch mit ihnen sucht und gut planen kann, das waren Eigenschaften, die sie in ihrem Beruf bewusst eingesetzt hatte und die sie erfolgreich machten. In ihrer Werbeagentur war es nicht ihre Aufgabe gewesen, Schilder zu malen, Logos zu entwerfen oder Websites zu bauen. Sie koordinierte den Einsatz von freien Mitarbeitern für die vielseitigen Aufträge ihrer Firma.
"Ich bin schon früh aus dem Haus, habe mit 18 Jahren den Mann kennengelernt, den ich mit 20 geheiratet habe", erzählt Anne Fierhauser. Zielstrebigkeit - das Wort trifft auf den Punkt, wovon sie damals erfüllt war. "Ich dachte immer, ich muss irgendwo ankommen, etwas fertig haben." Doch der Gesichtleser, der sich mit ihr beschäftigte, wie auch sie es heute mit ihren Klienten tut, gab ihr das Gegenteil mit auf den Weg: "Er sagte, ich sei eine Sammlerin. Es entspreche mir viel mehr, immer wieder neue Herausforderungen zu suchen. Damit werde ich nie wirklich fertig aber viel erfüllter sein."
Der Gesichtleser wurde Annes Mentor, sie arbeitete für ihn als Assistentin, organisierte seine Schulungen - bis sie neugierig genug auf das war, was er konnte und es auch können wollte. Drei Tage lang dauerte ein Seminar zum Erlernen der Grundlagen. Ab dann hieß es: pauken, pauken, pauken. "Mit meinem Hund bin ich damals Gassi gegangen und habe mir währenddessen meine Lernkarten vor die Nase gehalten."
Wenn heute ein Klient zu ihr kommt, erarbeitet sie sich sein Gesicht zunächst über Fotos. Dafür genügen Handybilder, die eher an Fahndungsfotos erinnern und das Gesicht frontal und im Profil zeigen. "Auf dieser Basis analysiere ich das Gesicht und erstelle eine recht umfangreiche schriftliche Auswertung." Beim Treffen mit Kunden achtet sie auf deren Lachen, auf ihre gesamte Mimik. In einem gut anderthalbstündigen Gespräch wertet sie schließlich ihre Erkenntnisse aus.
"Donald Trump könnte ich nicht mit Liebe begegnen"
"Ich habe rund 2.000 Gesichter gelesen", sagt Anne Fierhauser. Der erste, der sich ihr anvertraute, als sie gerade ihre Ausbildung absolviert hatte, war ein Arzt. Da saß sie mit einem Schild vor sich auf dem belebten Friedberger Platz in Frankfurt und bot "kostenloses Gesichtlesen" an, um möglichst viel Praxis zu erlangen.
Voraussetzung für ihre Arbeit sei, Menschen mit Liebe und ohne Vorbehalte zu begegnen. Aus diesem Grund könne Donald Trump niemand sein, mit dem sie sich beschäftigen wolle. "Meine Aufgabe ist es, den Menschen mit Respekt ihre Stärken aufzuzeigen. Ich will sie ermutigen, ihnen nachzugehen, nicht gegen ihr Naturell zu arbeiten." Erfüllung finden in dem, was man beruflich und im privaten Leben tut, wer will das nicht.
Über das Thema, das ihr Leben bewegt, sprach Anne Fierhauser jüngst beim 2. Internationalen Speaker-Slam in Wiesbaden. Vier Minuten lang durfte sie dort über einen frei gewählten Inhalt sprechen. Mehr als 70 Teilnehmer hielten ihre Reden - zu Themen wie Digitalisierung, Rassismus, Fachkräftemangel oder den Zauber der Raunächte. Anne Fierhauser gewann. Ihren Beitrag begann sie mit den Worten: "Die Wahrheit deines Lebens, sie steht dir im Gesicht geschrieben."