"Auch als Ossi konnte man etwas werden"

Einen alten Baum verpflanzt man nicht? Von wegen. Wenn es die Umstände verlangten, dann würde Horst Reisner auch jetzt sofort seine Koffer packen und umziehen. Allein, ein bisschen schade wäre es schon um den tollen Blick auf die Elbe. Vor acht Jahren zog der 87-Jährige seiner Frau zuliebe in deren alte Heimat nach Dresden.
Dafür brachen die beiden ihre Zelte in Südbrandenburg ab und verkauften ihr Haus bei Hoyerswerda. "Ich bin kein Mensch, der zurückschaut", sagt Reisner. Sein Blick habe sich immer schon nach vorn gerichtet, während die anderen um ihn herum verpassten Chancen hinterhertrauerten oder sonstige Ungerechtigkeiten des Lebens bedauerten.
Seine Kindheit in Schlesien? Wohlbehütet. Sein Leben in der DDR? Glücklich. Und die Zeit nach der politischen Wende? Eine Erfolgsgeschichte. Horst Reisner ist das Gegenteil des so häufig zitierten "Jammer-Ossis". "Ich habe mir alles selbst erarbeitet", sagt er und will dabei besonders betonen, dass das immer schon möglich war. Auch östlich der Mauer.

Dabei waren seine Voraussetzungen alles andere als optimal. Als Zwölfjähriger musste er im April 1945 mit seiner schwerbehinderten Mutter und seinem neunjährigen Bruder vor den heranrückenden Russen aus seiner damaligen Heimat in Brandenburg fliehen. Der Handwagen stand da bereits gepackt bereit.
Nur wenige Monate zuvor hatten sie im Süden den blutroten Feuerschein des brennenden Dresdens gesehen. Nach tagelanger Flucht landete die Familie nun im tschechischen Chomutov. Im Mai fuhren sie von dort mit dem Zug nach Dresden, wo sie vom Hauptbahnhof aus die Prager Straße entlangliefen, die links und rechts von riesigen Schuttbergen gesäumt war. "Diesen Anblick werde ich nie vergessen", sagt er. An der Elbe angekommen, wollte ihre Mutter danach mit den Kindern ins Wasser gehen, doch sie hätten sie davon abgehalten: "Mama, wir wollen leben."
Wieder zurück in Brandenburg ging das Leben weiter. Horst Reisner trat eine Lehrstelle als Bergknappe an. Als Kreisbester wurde 1950 sein Talent entdeckt. Er durfte Abitur machen und an die Bergakademie Freiberg gehen. Dort aber habe er dann eine Prüfung absichtlich versaut, um unter Tage endlich sein eigenes Geld verdienen zu können. Sein erster Lohn waren 700 Ost-Markt. Eine Menge Geld.
Lange aber blieb Reisner nicht im Berg. Dafür war er zu klug. Stattdessen wurde er nun doch Bergbauingenieur, spezialisierte sich auf Geotechnik und ging in die Forschung. Dort arbeitete er sich erst zum Abteilungsleiter und dann zum Leiter eines Forschungsbereiches hoch.
In den Westen abhauen? Daran verschwendete Reisner nie einen Gedanken. Ihm ging es gut in der DDR. Auch privat fand er sein Glück, auch wenn sein eigenes Kind mit drei Jahren starb, vermutlich an einem Gendefekt. Er heiratete 1963 und hat das nie bereut. "Ich hatte weder Verwandte noch Bekannte im Westen und habe bis zur Wende nicht eine D-Mark in den Händen gehabt", sagt er stolz.

In der DDR hatte Reisner maßgeblichen Anteil an der Entwicklung einer neuen Entwässerungstechnologie für Tagebaue. 1988 erhielt er dafür die Auszeichnung "Verdienter Bergmann der DDR". Kurz darauf sollte der Tiefpunkt seiner beruflichen Karriere folgen: Die Forschung in Brandenburg wurde abgewickelt. Erst wurde seine Frau entlassen, dann zum 31. Dezember 1991 auch er. Auf einmal musste er sich in die langen Schlangen vor dem Arbeitsamt in Hoyerswerda einreihen.
Damals war er 59 Jahre alt. Zeit für den Ruhestand? Man ahnt es: Das kam für Reisner nicht infrage. Zunächst machte er sich mit einem kleinen Ingenieurbüro selbstständig, dann wurde er von einem westdeutschen Bergbausanierer als Projektleiter angeworben. Seine Zielvorgabe: Innerhalb von drei Jahren schwarze Zahlen schreiben. "Ich habe nur anderthalb Jahre gebraucht." Sogar die Wende hatte ihm Glück gebracht.
Horst Reisner macht eine Pause, lehnt sich im Sessel zurück und lächelt zufrieden. Blickt er etwa doch gerade zurück?
Nach seinem Eintritt in die Rente mit 67 und dem Umzug nach Dresden engagierte er sich noch in einem Herzensprojekt: Im damaligen Restaurant Steiger an der Wilsdruffer Straße gestaltete er mit einigen Mitstreitern einen Gastraum zur Bergbauausstellung um. Als jedoch die Gaststätte 2015 schloss, verschwanden alle Bemühungen im Nirvana.
Auch dieses unschöne Erlebnis konnte Horst Reisner jedoch nicht verbittern. Er schimpft nicht auf das Wetter, poltert nicht gegen Merkel und geht nicht gegen die Islamisierung des Abendlandes auf die Straße. "Ich war ja selbst mal ein Flüchtling", sagt er. Bis heute sei er ein vollkommen unpolitischer Mensch geblieben, auch wenn er zu DDR-Zeiten in der Partei war. Unangenehm sei ihm diese Tatsache noch nie gewesen. Er wollte vorwärts kommen - und das ging als Genosse nun mal leichter. Was soll's.
Rückblickend würde Horst Reisner nichts anders machen - aber zurückblicken will er ja sowieso nicht. Immer weiter nach vorn soll es gehen, so wie es die nimmermüde Elbe vor seinem Fenster vormacht.