SZ + Dresden
Merken

Julianes Defekt - warum ihr 31. Geburtstag ein Wunder ist

Erst nach 30 Jahren erfahren Maria und Peter Kubsch, welche Krankheit ihre Tochter hat. Das verändert ihr Leben.

Von Nadja Laske
 6 Min.
Teilen
Folgen
Was Juliane vom Leben um sie herum weiß, können ihre Eltern nicht genau sagen. Doch Maria und Peter Kubsch beziehen ihre Tochter in alles mit ein.
Was Juliane vom Leben um sie herum weiß, können ihre Eltern nicht genau sagen. Doch Maria und Peter Kubsch beziehen ihre Tochter in alles mit ein. © Marion Doering

Von der Straße aus fallen Lichter ins Wohnzimmer. Ein winterlich dunkler Nachmittag. Maria Kubsch hat Zuckerkuchen gebacken und Kaffee gekocht. Ihre Tochter Juliane ist gerade heimgekommen. Nun sitzt die Familie um den großen Esstisch. Antike Möbel ringsum, der gemütliche Raum in seiner Ordnung, wie sie erst wieder von Dauer ist, wenn die Kinder groß und aus dem Haus sind. So wie Julianes jüngerer Bruder Fabian.

Auch Juliane ist schon erwachsen. In wenigen Tagen wird sie 31 Jahre alt – ein großes Wunder, von dem Maria und Peter Kubsch noch nicht lange wissen. Dass ihre Tochter nach wie vor bei ihnen ist, das können sie in aller Tragweite erst schätzen, seit eine späte Diagnose ihr Leben durcheinandergewirbelt hat.

„Ich hatte eine ganz normale Schwangerschaft, eine Geburt ohne Komplikationen“, erzählt Maria. Am dritten Advent 1988 kommt Juliane im Diakonissenkrankenhaus zur Welt. Ein Sonntagskind. Aber ohne das dazugehörige Glücksdepot. Die Kleine schreit und trinkt nicht. Ratlosigkeit und Sorge begleiten ihre ersten Lebenstage. „Sie hat keinen Ton von sich gegeben, keinen Saugreflex gezeigt.“ Die Ärzte lassen Mutter und Kind ins Krankenhaus Neustadt verlegen, dort gibt es eine Intensivstation und ein neonatologisches Zentrum.

Erst ein halbes Jahr später wird eine CT-Untersuchung möglich. Zu rar sind die entsprechenden medizinischen Geräte. „Man hat uns gesagt, Julianes Kleinhirn sei viel zu schwach ausgebildet“, erzählt ihre Mutter. Warum? Fügung. Schicksal. Eine Laune der Natur. Mit dieser Erklärung leben Maria und Peter Kubsch fortan.

Mal trinkt Juliane von selbst, meistens jedoch nicht. Ihr Vater macht die Ernährung seiner Tochter zu seiner Aufgabe, bringt für jeden Milliliter Nahrung viel Zeit und Geduld auf. Lange hilft nur die Sonde, doch die reißt sich das Kind mehrfach versehentlich heraus. Jedes Mal ist die ganze Familie in Aufruhr, bis die Eltern entscheiden: Wir füttern Juliane ohne Sonde. Ein mühseliger Weg und Grenzgang. Auch heute noch ist die junge Frau sehr schmal. Sie sitzt im Rollstuhl, ihr Gesicht, umrahmt von der kaffeebraunen Kurzhaarfrisur, lehnt an der Kopfstütze, der Blick irrt durch den Raum. Das Vesper verabreicht ihr Peter Kubsch über eine überdimensionale Spritze. Juliane prustet und rudert mit den Armen. Zwar kann sie es nicht sagen, doch der Kampf mit der Nahrung macht ihr sichtlich Ärger: Nein, essen ist nicht ihre Leidenschaft. Erst nach der Mahlzeit hellt sich ihr Gesicht langsam auf, und Juliane zeigt sich so, wie ihre Eltern sie beschreiben: als fröhlicher Mensch mit ansteckendem Lachen.

In der DDR bescheinigen ihr zuständige Stellen „Förderunfähigkeit“. Nach der Wende gibt es ein solches Urteil nicht mehr. Jeder Mensch erhält Förderung, auch für Juliane gilt Schulpflicht. Die absolviert sie in einer Einrichtung für behinderte Menschen. Und noch etwas bringt die neue Zeit mit sich: einen ganzheitlichen Blick auf die komplexen Einschränkungen, mit denen sie leben muss, auch von offizieller und medizinisch-therapeutischer Seite.

Groß und ganz haben ihre Eltern Juliane stets gesehen und nie weniger als ein Teil der Familie und des Freundeskreises. „Wir haben sie überall mitgenommen. Sie gehört immer dazu“, sagt Maria Kubsch. Dass die Pflege eines schwerst behinderten Kindes an der Kraft zehrt, daraus machen sie und ihr Mann kein Hehl. Beide arbeiten voll, pflegen ihre Hobbys. Maria singt im Chor, Peter liebt Theater. Die Zweisamkeit jedoch kommt sehr kurz, einer der beiden bleibt bei Juliane, wenn der andere ausgeht. „Ich erlebe jetzt, wie unsere Freunde und Kollegen eine neue Etappe des Lebens beginnen“, sagt Peter Kubsch. Die Kinder sind groß, es ist wieder Zeit für mehr eigene Wünsche und Vorhaben. Für Kubschs gilt das nicht. Ihr Kind bleibt Kind auch im Erwachsenenalter.

Früher haben sie gedacht, auch Juliane werde mal das Haus verlassen. Wenn sie 30 ist und die Kraft der Eltern nachlässt, wäre sie vielleicht in einem Heim besser aufgehoben. „Doch seit wir wissen, wie die Krankheit heißt, die Juliane hat, können wir uns das nicht mehr vorstellen“, sagt Peter. Seitdem wissen er und Maria nämlich auch, wie extrem besonders ihre Tochter ist – und dass andere Eltern in dieser Situation ihr Kind schon lange verloren haben.

Ein Experte der Einrichtung, in der Juliane seit Ende der Schulzeit die Woche über von morgens bis zum Nachmittag verbringt, stellte die entscheidende Frage: Soll eine genetische Untersuchung, die inzwischen möglich geworden ist, nicht endlich Aufschluss über Julianes Handicap geben? Maria und Peter Kubsch entschließen sich zu dem Test. Im September 2018, fast 30 Jahre nach der Geburt ihrer Tochter, erhalten sie die Diagnose. Sie leidet an einem Gendefekt. Der Name: PCH2a – Pontozerebelläre Hypoplasie, eine angeborene, fortschreitende Erkrankung des Gehirns.

„Sechsmal häufiger gewinnt ein Mensch im Lotto“, sagt Maria. Auf eine Million Geburten komme im Schnitt ein Fall, nämlich dann, wenn eine Frau und ein Mann mit gleichem Fehler auf Chromosom 17 Eltern werden, und dieses an sich unproblematische Erbgut an ihr Kind weitergeben. „Das macht Juliane für uns noch besonderer, als ohnehin.“ Die Nachricht hat das Leben der Familie verändert. Kubschs finden Kontakt zu anderen Eltern, die Kinder mit PCH haben. Sie wissen nun: Viele Eigenarten ihrer Tochter gehören zum Krankheitsbild und müssen nicht übermäßig beunruhigen. Sie wissen: Es gibt Menschen, denen kann man sich anschließen, ohne das eigene Kind erklären zu müssen. Und sie wissen auch: Ihre Juliane ist die älteste PCH-Patientin Deutschlands. Die meisten erleben kaum das Schulalter.

Gemeinsam mit 25 betroffenen Familien und deren Kindern planen Maria und Peter Kubsch nun ein außergewöhnliches Vorhaben: Im August 2020 gehen sie auf Kreuzfahrt – um Zeit für eine gemeinsame Auszeit zu haben, um sich gründlich auszutauschen, um der Krankheit Aufmerksamkeit zu verschaffen und weitere Aktionen zu planen. PCH ist bekannt, hat aber keine Lobby. Die braucht es jedoch, um Therapie und Forschung voranzutreiben und irgendwann Heilung zu erreichen. Die braucht es auch, um Betroffene noch besser zu unterstützen, zu stärken und zu informieren.

„Für uns ist es wichtig, endlich zu erfahren, dass wir nichts falsch gemacht haben und keine Schuld an Julianes Krankheit haben“, sagt Peter Kubsch. Ebenso wichtig ist es, nun auf einem neuen Weg zu sein.

Um ausreichend Pflegekräfte und einige verwaiste Familien mit auf Reisen nehmen zu können, sammelt die Selbsthilfegruppe Geld: 

  • PCH-Familie e.V
  • Sparkasse Bremen
  • IBAN: DE54 2905 0101 0082 5458 72
  • Stichwort: Cruise4Life
  • www.cruise4life.de

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Newsletter "Dresden kompakt" und erhalten Sie alle Nachrichten aus der Stadt jeden Abend direkt in Ihr Postfach. 

Mehr Nachrichten aus Dresden lesen Sie hier.