SZ + Dresden
Merken

Auf dem DDR-Fahrrad nach Budapest

Der Linke Tilo Kießling ist der dienstälteste Stadtrat Dresdens. Über seine Jugend, die Partei und seine größte Niederlage. 

Von Andreas Weller
 6 Min.
Teilen
Folgen
Tilo Kießling vor dem Rathaus. Seit 1996 ist er Stadtrat, ehrenamtlicher Politiker für Die Linke, damals PDS.
Tilo Kießling vor dem Rathaus. Seit 1996 ist er Stadtrat, ehrenamtlicher Politiker für Die Linke, damals PDS. © Sven Ellger

Die Stadträte der ersten Stunde sind Geschichte. Mit dem Start in die neue Wahlperiode ist Tilo Kießling (48, Die Linke) der dienstälteste ehrenamtliche Politiker im Rat. Dabei war sein Start zunächst missglückt. 1994 kandidierte der damals 23-Jährige zum ersten Mal, als Spitzenkandidat für die PDS in Prohlis. Zwar bekam die PDS in Prohlis genügend Stimmen für einen Sitz. Allerdings nicht Kießling, sondern er wurde von Martina Blau auf der Liste überholt. Zwei Jahre dauerte es, dann rückte Kießling nach, das war 1996.

„Ich habe die Diskussionen innerhalb der PDS nicht verstanden, wahrscheinlich aus Jugendgründen“, erzählt er. Kießling war nicht einmal Parteimitglied, bevor er in den Rat kam. „Als ich 17 Jahre alt war, mussten wir in der Schule einen Aufsatz schreiben, wie wir es mit der SED halten.“ Mitschüler hofften durch einen Parteieintritt auf einen guten Studienplatz, andere wollten bei der Armee möglichst weit kommen. „Das hat mich genervt. Deshalb habe ich geschrieben, ich möchte erst Karriere machen und dann entscheide ich, ob ich in eine Partei eintrete.“ Daran erinnerte er sich 1996. Mit der SED war es bereits einige Jahre vorbei. Aber Kießling machte politisch quasi Karriere, durch sein Nachrücken in den Rat. Also trat er in die PDS ein.

Kießling kam aus dem Bereich der Ferienlager. Eigentlich wollte er mal Pädagogik studieren, Lehrer werden. Mit 19, kurz nach der Wende, verwirklichte er sich noch einen lang gehegten Wunsch – eine Radtour nach Budapest. „Mit meinem DDR-Rad, ein Gang, keine Schaltung, aber es fuhr.“ Auf einem Zeltplatz bei Passau stieß er auf eine Gruppe Jugendlicher. Sie kamen aus Stuttgart, waren als ökumenische Kirchenfreizeittour unterwegs. „Sie sprachen über den Geheimdienst in der BRD, distanziert, aber grundfreundlich. Das hat mich beeindruckt. Sie haben genauso über die BRD geredet, wie ich über die DDR.“ Solche Freizeiten wollte Kießling in Dresden fortan auch organisieren.

Zurück in Dresden informierte er sich, wo so etwas möglich ist. „Vieles war mit der Wende auseinandergebrochen. Also baute Kießling einen Jugendtreff mit auf, damals im Parteihaus der PDS. „Zwei Jahre lang habe ich dort jeden Donnerstag ab 17 Uhr auf Besucher gewartet.“ Anfangs waren es wenige, später bis zu 200, die kamen. Groß sollte es für Kießling von Anfang an sein und noch größer werden, deswegen schlug er den Namen „Roter Baum“ vor – rot wie die PDS und groß wie ein Baum. Der Name ist bis heute geblieben. Kießling ist seit einigen Jahren Geschäftsführer der gemeinnützigen Kinder- und Jugendhilfegesellschaft „Roter Baum“. Mittlerweile hat diese drei Töchter, in Dresden, in Berlin sogar zwei, weil eine sich nur um Ferienlager kümmert. Der „Rote Baum“ betreibt in Dresden einen Kindertreff, ein Jugendhaus, zwei Projekte der mobilen Jugendarbeit und macht in drei Schulen Schulsozialarbeit. Kießling hat selbst drei Söhne, lebt in einer Beziehung.

„Die PDS war ausgegrenzt“

Politische Konflikte wegen des „Roter Baums“ gab es für Kießling bereits reichlich. Denn er sitzt im Jugendhilfeausschuss. Dort wird auch entschieden, welche Projekte und Einrichtungen Geld von der Stadt erhalten. Jedes Jahr werden mehrere Millionen Euro verteilt. „Selbstverständlich erhält auch der ,Rote Baum‘ etwas von der Förderung.“ Immer wieder haben Räte anderer Fraktionen kritisiert, Kießling betreibe „Selbstbedienung“ für seine „parteinahe“ Gesellschaft. Über hundert Projekte werden jedes Jahr gefördert. Die Entscheidungen seien in nur wenigen Fällen strittig, über alle politischen Lager hinweg. „Wenn es um den ,Roten Baum‘ geht, stimme ich nicht mit ab. Das halte ich penibel ein, schließlich bin ich da befangen.“ Er rechnet bereits damit, dass die AfD diese Flanke erneut aufmachen werde.

Sich zu wehren, habe Kießling bereits in den ersten Jahren im Rat gelernt. „Die PDS war die ersten zehn Jahre da komplett ausgegrenzt.“ So gab es mal Pläne, das Bus- und Bahnnetz der Verkehrsbetriebe (DVB) einzudampfen. Um das zu verhindern, sammelte Kießling mit Mitstreitern Unterschriften für ein Bürgerbegehren „Schienennetz erhalten“. Als genügend Unterschriften zusammen waren, entschied der Stadtrat, dies zum Ratsbegehren zu machen. „Die Mehrheit wollte diesen öffentlichen Erfolg für uns nicht zulassen. Aber das zeigt, dass eine Wirkung trotz Ausgrenzung möglich ist.“ Ähnlich erfolgreich war das Bürgerbegehren zum Erhalt der städtischen Krankenhäuser 2012 aus Kießlings Sicht. Es gab Befürchtungen, sie könnten privatisiert werden. Sein „größtes Highlight“ war bereits 2003. Damals wollte die Stadtverwaltung Kindern arbeitsloser Eltern keine Kitaplätze mehr anbieten, weil nicht genügend Plätze da waren. Das konnte politisch verhindert werden.

In den Jahren bis 2014, also bevor es im Rat eine Mehrheit aus Linken, Grünen und SPD gab, waren es aber eher kleinere Erfolge, die Kießling mit der PDS oder dann den Linken erreichen konnte. „Aber mit Wirkung für die ärmeren Dresdner und Familien.“ Kießling nennt kostenlose Kitaplätze ab dem dritten Kind oder die Verlängerung des Dresden-Passes für Bedürftige. Damit müssen Betroffene nicht mehr jedes Jahr ein neues Passfoto dafür anfertigen lassen.

Als dann Die Linke ab 2014 in der Mehrheitsposition mit Grünen und SPD war, gab es vier Millionen Euro mehr für Kinder- und Jugendeinrichtungen, einen Sondertopf über zwei Millionen Euro für soziale Projekte und es wurde ein Preis für Laienchöre eingeführt. „Das ist für die Subkultur enorm wichtig und eine Würdigung der ehrenamtlichen Arbeit.“ Und natürlich die Gründung der WID und der Neustart für den sozialen Wohnungsbau in Dresden.

„Alles andere wäre absurd“

Als größte Niederlage wertet Kießling den Verkauf der Woba 2006. Damit hat die Stadt ihre Wohnungen verkauft, die heute dringend benötigt werden und Kießlings Fraktion hat sich komplett zerstritten und danach gespalten. Von den damals 17 PDS-Stadträten blieben sieben als Vertreter der Partei im Rat. Zehn, darunter die Befürworter des Woba-Verkaufs, bildeten die Linksfraktion. PDS. Darunter bekannte Namen wie Christine Ostrowski, Ronald Weckesser und Barbara Lässig. „Die Spaltung der Fraktion war damals notwendig. Aber uns war klar, dass diejenigen verlieren, die gehen. Deshalb haben wir die Angelegenheit vor die Basis getragen.“ Von den Mitgliedern gab es die mehrheitliche Entscheidung, dass der Verkauf der Woba abzulehnen sei. „Dadurch wurden wir als Vertreter der Partei anerkannt.“ So konnte die Niederlage noch in einen internen Sieg umgewandelt werden.

Aus seiner Sicht sollten Grüne, SPD und Linke weiter zusammenarbeiten. „Alles andere wäre absurd.“ Als Linker sehe er seinen Auftrag darin, die Interessen seiner Wähler so weit wie möglich umzusetzen. „Das ist mit Grünen und SPD am ehesten machbar. Allerdings müssen wir auch keine Einigkeit erzwingen.“ Vielmehr sollte aus Kießlings Sicht das umgesetzt werden, was geht. Er sei „extrem gerne“ Stadtrat. „Und ich habe den größten Erfahrungsschatz. Wenn jemand das nutzen möchte, stehe ich gerne bereit“, bietet er den Neu-Politikern an.