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Dresdner als Insulaner der Bürgerlichkeit

In der DDR emigrierte das Dresdner Bürgertum in den Westen oder baute sich Nischen, um sein Leben zu leben. Wie viel Bürgertum gab es in der Stadt?

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Von Paul Kaiser

Der Verleger Wolf Jobst Siedler gewann Anfang der 90er Jahre eine kuriose Wette. Er hatte vor Freunden behauptet, dass diese innerhalb einer Stunde auf dem Kurfürstendamm keinem Herrn mit Krawatte begegnen würden. Die zweifelten seine steile These an, setzten dagegen und hielten auf dem Westberliner Hauptstadt-Boulevard Ausschau: Vergebens, keine Krawatte, nirgends.

Mit oder ohne Binder – das Reden über den Verlust des „alten Bürgertums“ und die Notwendigkeit einer „neuen Bürgerlichkeit“ hat Konjunktur. Die Palette reicht von der medialen Penetranz von Tanzshows und Kochkursen bis hin zu Ratesendungen im Fernsehen. Sie lässt sich fortsetzen mit dem wiedererwachten Interesse an Verhaltensregeln, Tischmanieren und Kopfnoten. Aber sie betrifft, jenseits solcher Oberflächenphänomene, die spürbare Wiederkehr bürgerlicher Organisations- und Geselligkeitsformen – vom Mäzenatentum über die Renaissance der Salonkultur bis hin zu Formen des Bürgersinns.

Die Krawatten-Wette macht klar, dass in den letzten 70 Jahren nicht nur der Osten Deutschlands seine bürgerliche Mitte verlor. Auch im Westen gingen Werte, Rituale und Institutionen über Bord. Die Verlustgeschichte in der DDR erreichte jedoch eine andere Dimension. In der „Diktatur des Proletariats“ blieb kein Platz für bürgerliche Geltungsansprüche, Vereine wurden verboten und die Chancen kommunaler Mitbestimmung rapide eingeschränkt. Jene Feindsetzung gegenüber den „bürgerlichen Elementen“ war elementar und führte auch in Dresden zur Enteignung und zum Exil großer Teile des Besitz- und Wirtschaftsbürgertums. Gegenüber den Bildungseliten aber – etwa den Ärzten und Hochschullehrern – ging man zunächst behutsamer vor. Sie galten für den Aufbau des Sozialismus als unabkömmlich, wurden für ihr Bleiben mit Privilegien entlohnt und spürten erst 1961, dass diese Form bürgerlicher Anwesenheit eine höchst fragile war.

Mit Ulbrichts Mauerwerk schlug dann die Stunde der eigenen Bildungselite – der „neuen sozialistischen Intelligenz“, deren Akteure schon in jungen Jahren Karriere machten. Der Wegfall einer Alternative im anderen System zog für die Bildungsbürger den Verlust der meisten Sonderrechte nach sich, mit denen die SED die alten Leistungsträger hofiert oder mit abgepresster Loyalität im Lande gehalten hatte. Jetzt wurde das „alte Bürgertum“ von den Aufsteigern massiv verdrängt und emigrierte in die verbliebenen Schutzräume. In Dresden waren das neben den Kirchen vor allem die Institutionen der Hochkultur – vom Kreuzchor über staatsferne Fachbereiche an den Fach- und Hochschulen bis zum Amt für Denkmalpflege.

Dresden blieb immer eine bürgerliche Insel

Gleichwohl blieb Dresden über die gesamte DDR eine Stadt der „bürgerlichen Inseln“. Es ist erstaunlich, wie viele Refugien etwa in Loschwitz oder Blasewitz existierten und wie wichtig diese für die Kontinuität bürgerlicher Kulturwerte wurden. Unverständlich erscheint zugleich, dass diese Formen einer städtischen Gegenkultur bislang weitgehend unerforscht blieben, während ansonsten jede oppositionelle Mikrostruktur gebührende Aufmerksamkeit erlangt.

Auf dem Kolloquium des Geschichtsvereins stellt nun ein am Institut für Soziologie der TU Dresden betriebenes studentisches Projekt unter Leitung von Karl-Siegbert Rehberg solche bürgerlichen Eigenwelten vor. Etwa den elitären, zwischen 1957 und 1972 existierenden, fast großbürgerlich intendierten „Dresdner Club“ im Lingnerschloss, maßgeblich geprägt von der kulturellen Ausnahmestatur eines Wissenschaftlers wie Manfred von Ardenne. Oder die vom Kammervirtuosen Arthur Tröber in der frühen DDR in gewagter Gratwanderung bewahrte Tradition des legendären „Tonkünstlervereins“, der schließlich in die bis heute autonomen Strukturen der Kammermusik in der Sächsischen Staatskapelle mündete. Bis hin zum bürgerlichen Sonderstatus der bildenden Künstler, die ihre Ateliers, etwa im Künstlerhaus Loschwitz, für inoffizielle Salons, Ausstellungen oder Debatten öffneten und in historischer Verkehrung ihrer Rolle sich durchaus bürgerlichen Werten verpflichtet fühlten.

Der Einfluss jener „Refugiumsbürger“ im Dresden der DDR-Zeit blieb aber zweifellos begrenzt. Den Zwängen des Staates entgingen auch jene nicht, die sich auf ein bürgerlich verfasstes „Leben in Wahrheit“ (Vaclav Havel) beriefen. Die Hauptimpulse dieses Milieus waren bürgerliche Wertebewahrung und eine Lebenspraxis weitgehender Staatsferne. Bei manchen ihrer Vertreter wäre diese Haltung auch als „innere Emigration“ oder als Form politischer Resistenz beschreibbar. Dieses bürgerliche Haltungs- und Handlungskonzept blieb aber ein schwieriger Balanceakt zwischen Verweigerung und Engagement, somit für viele ihrer Protagonisten ganz unweigerlich ein Feld der versteckten oder offenen Allianzen.

Durch den massenhaften Rückzug in die Privaträume und durch das Fehlen eines öffentlichen Diskursfeldes – das im Übrigen auch den Typus des bürgerlichen Intellektuellen in der DDR ad absurdum führte, wenn er nicht, wie wenige, mit unverstellter Stimme durch die Medien des anderen Teilstaates sprach – zeigte sich die bürgerliche Gegenkultur in charakteristischer Weise auf einen Kammerton der Melancholie gestimmt.

Nach der Wende lebte das Bürgertum auf

Ohne deren Leistungen hätte nach 1989 aber kaum an stadtbürgerliche Traditionen angeknüpft werden können – vom Bürgerprojekt Frauenkirche bis hin zum hedonistischen Restimpuls einer DDR-Gegenkultur in Gestalt des Elbhangfestes. Auch wenn die bildungsbürgerlichen Restmilieus durch die nach 1961 fortgesetzte Abwanderung in den Westen sich stetig aushöhlten, endeten deren lokale Kulturgeschichten doch nicht durch das Paradox einer innerdeutschen Emigration. Bürgerliche Ideen und Werte sozialisierten sich in den gegenkulturellen Kreisen, Zirkeln und Netzwerken der 70er und 80er Jahre fort. Die Entwürfe lebten in der Welt der Kinder und Enkel weiter und wurden bisweilen auch von den Trägern der sozialistischen Bildungselite umgesetzt, die nun ihrerseits dem regierenden Dachdecker mit bürgerlichen Kulturtugenden eine Statusdistanz demonstrierten.

Von dieser verwickelten Geschichte zu sprechen, heißt mit Blick auf die Gegenwart zugleich anzuerkennen, dass die durch jene Akteure in schwerer Zeit hervorgerufene Prägung einer spezifischen Dresdner Bürgerlichkeit heute nicht als unzeitgemäß gelten sollte.

Der Autor Paul Kaiser ist Diplom-Kulturwissenschaftler an der Technischen Universität und befasst sich mit Soziologischen Theorien, Theoriegeschichte und Kultursoziologie insbesondere Dresdens.