Dresdner Forscher belauschen die Tiere

Ein Geschäftstermin weit nach Mitternacht. Nicht an einem Besprechungstisch, sondern im Freien, direkt unter dem Nachthimmel. An Schlaf denken Marco Krondorf und Steffen Bittner nicht. Zu spannend sind diese Tage, auf die sie jahrelang hingearbeitet haben. Gemeinsam stehen sie am 12. März in Krondorfs Garten und schauen hinauf zu den schwarzen Wolken. Es ist bedeckt. Deshalb werden sie nur schlecht erkennen können, auf was sie so sehnsüchtig warten. Das helle Leuchten, das über das Firmament zieht.
In 400 Kilometern Höhe und mit einer Geschwindigkeit von fast 28.000 Kilometern pro Stunde zieht die internationale Raumstation ISS über Dresden hinweg. Es ist kurz vor halb zwei, als Krondorf und Bittner Grund zum Jubeln haben. Die ISS schickt ein Signal hinab zu ihnen. „Ein super starkes Signal, es war der Wahnsinn“, sagt Krondorf begeistert. Dass genau das funktioniert, daran haben die Dresdner mit ihrer Firma Inradios lange gearbeitet. Mit ihrer Technik wollen Wissenschaftler schon bald Erdbeben voraussagen. Dabei helfen ihnen Tiere.
Es beginnt mit einem Anruf. Im Jahr 2013 meldet sich Martin Wikelski, Direktor am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell, bei den beiden. „Er erzählte uns von seiner Idee“, erinnert sich Krondorf. Vom Weltall aus will Wikelski die Bewegung der Tiere beobachten. Welche Routen nehmen sie über den Erdball? Und was tun sie, wenn sich Bedingungen rundherum verändern? Das Szenario hat der Biologe und Ornithologie schon klar in seinem Kopf. Die Technik dazu braucht er allerdings noch. „Wir haben drei Stunden lang geredet“, erzählt Krondorf weiter. „Wir sollten für die Wissenschaftler herausfinden, ob es möglich ist, mit sehr kleinen Sendern einen Datenstrom von der Erde aus an die ISS zu senden.“

Die Dresdner sind damals ehrlich. „Wir sagten, wir können nichts versprechen, aber gebt uns drei Monate Zeit.“ Steffen Bittner und Marco Krondorf hatten sich an der TU Dresden kennengelernt, studierten dort Informationssystemtechnik. Im Jahr 2010 gründeten sie ihr Unternehmen. Ein Vierteljahr lang füttern sie nach dem Telefonat mit Wikelski mathematische Modelle mit den Informationen zu den Anforderungen für die Tierbeobachtung. „Wir haben quasi theoretisch durchgespielt, ob es klappen könnte.“ Ähnlich einem simuliertem Crashtest für Autos. „Da muss ja auch kein Fahrzeug wirklich gegen die Wand fahren.“ Am Ende sind sich die Dresdner sicher: Das funktioniert auf jeden Fall.
Die Antwort dürfte die Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut gefreut haben. Denn für das, was sie sich vorstellten, gab es bis dato keinerlei Vorlagen. Zwar existierten Tiersender, die über das Mobilfunknetz senden. Sobald ein Tier aber nicht in Reichweite eines Netzes ist, wird nichts übertragen. Für ihre Lösung kombinierten die Dresdner deshalb Verfahrensweisen aus dem Mobilfunk, der Radartechnik und der Satellitenkommunikation.

Sie entwickelten eine Art kleinen Rucksack, den unter anderem schon einige Amseln über den Erdball fliegen. Es ist ein Computer im Miniaturformat. Ausgestattet mit Sender und Sensoren verrät er nicht nur den Standort der Vögel. Die sogenannten Tags übermitteln auch Druck-, Feuchtigkeits-, Temperatur-, Beschleunigungs- und Magnetfelddaten. Trotzdem wiegen sie nur fünf Gramm, sind unempfindlich gegen Kälte, Hitze, Nässe und Staub. Bis zu anderthalb Jahren, das haben erste Tests ergeben, können sie ausgestattet mit Akku und Solarzelle senden. „Die Tags werden nur zum Senden aktiviert, wenn die ISS in Reichweite ist“, begründet Krondorf das. Ansonsten schlafen sie.
Am 10. März war es endlich soweit. Die im Sommer 2018 an der ISS installierte Antenne des Icarus-Projekts wurde angeschaltet. Mehrere Monate soll nun erst einmal getestet werden, ob das Senden und Empfangen reibungslos funktioniert. Schon einen Tag später kam in Dresden eine E-Mail an. „Die Forscher in Radolfzell hatten erstmals erfolgreich das Signal der ISS beim Überflug empfangen. Ein Erfolg. In den kommenden Monaten soll es weitere Tests geben. Wenn alles funktioniert, können weitere Tiere mit den Tags ausgestattet werden. Ab Herbst soll das System dann der Wissenschaft zur Verfügung stehen.

Nicht nur die Zugbewegungen von Vögeln wollen sie beobachten. Auch Wanderrouten von Säugetieren und Insekten stehen im Fokus des Interesses. Die Daten sollen auch so manches Rätsel über tierisches Verhalten lösen – und könnten damit sogar Menschleben retten. In der Vergangenheit haben Menschen immer wieder beobachten können, dass Tiere vor Erdbeben oder Vulkanausbrüchen ihr Verhalten ändern, sogar zur Flucht neigen. Schon lange bevor das Ereignis eintritt. Mit der neuen Antenne und der Technik wäre also auch eine Art Frühwarnsystem vor solchen Naturkatastrophen möglich. Deshalb sind auch die Bewegungen von Landtieren interessant.
Das bedeutet auch in Zukunft noch viel Arbeit für die Dresdner Firma Inradios. 14 Entwickler gehören derzeit zum Team. „Wir müssen uns nun Gedanken darüber machen, wie wir die Tags noch leichter machen“, sagt Krondorf. In den vergangenen Jahren seien er und die Kollegen schon fast zu Hobby-Biologen geworden. „Wir haben festgestellt, dass es viele Tierarten gibt, die mit einem fünf Gramm schweren Tag gar nicht zurechtkommen würden.“ Deshalb geht die Entwicklungsarbeit im Dresdner Unternehmen, das seit 2017 zum Technologiekonzern „Rohde & Schwarz“ gehört ohne Unterbrechung weiter.
Es ist gigantisch, welche Datenmengen die Tiere in Zukunft jeden Tag an die ISS übermitteln können. Ein Berg an Informationen, den die Wissenschaft für völlig neue Einblicke nutzen kann. Nach vielen Jahren Entwicklungsarbeit ist Icarus, das Kooperationsprojekt der russischen Raumfahrtbehörde Roskosmos und des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt, nun endlich aktiv. Beim nächtlichen Treffen in Krondorfs Garten ist das beiden Firmengründern bewusst. „Es ist schon toll, dass wir das Gehirn dafür entwickeln durften“, sagt Marco Krondorf zum Schluss.