Olympiasieger nimmt Pechstein in die Pflicht

Das gehört zu den Aufgaben, die er weniger mag. André Hoffmann sitzt mit leicht zugekniffenen Augen vor dem Computer und wirkt angestrengt. Doch die Information, die das Gerät über den Drucker ausspuckt, ist ihm wichtig. Schwarz auf weiß steht es da. Der Eislaufverein Dresden war bei der deutschen Nachwuchsmeisterschaft im Eisschnelllauf so erfolgreich wie kein anderer.
Von 28 möglichen Medaillen in vier Altersklassen gingen neun nach Dresden – von jeder Farbe drei. Das ist keine überraschende Ausbeute, sondern das Ergebnis einer stetigen Entwicklung. Der Landesstützpunkt liegt nun bereits in der dritten Saison vor den drei nationalen Zentren Berlin, Erfurt und Inzell. Dresden bildet gemeinsam mit Chemnitz einen Nachwuchs-Bundesstützpunkt, dessen Zukunft über 2020 hinaus jedoch offen ist. Das offenbart das Dilemma.
In Dresden trainieren härtet ab
Die Vermutung liegt nah: In Dresden muss irgendetwas anders laufen. Aber was? Heike Reinwarth winkt ab: „Das ist ein bisschen DDR-Ausbildung plus holländische Elemente“, sagt die Dresdner Nachwuchstrainerin. Die Athleten in den Niederlanden bestimmen seit Jahrzehnten die Weltspitze. Was genau die holländischen Elemente sind, deutet sie allenfalls an. „Das bezieht sich aufs Sprungtraining. Aber warum solche Dinge verraten? Die anderen helfen uns auch nicht“, sagt Reinwarth.
Mit „den anderen“ sind die deutschen Bundesstützpunkte und auch die Verbandsspitze in der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft gemeint. Dass man offenbar Geheimnisse voreinander hat, sagt viel über die derzeitige Gemengelage im Eisschnelllauf. Die Trainerriege in Dresden um den Olympiasieger von 1988 über 1.500 Meter, André Hoffmann, fühlt sich in ihrer Arbeit eher behindert als unterstützt.

Auf der einzigen 333-Meter-Freiluftbahn Deutschlands werden seit Jahren Talente für die deutsche Juniorenspitze ausgebildet. Das Oval im Sportpark Ostra ist damit 67 Meter kürzer als die üblichen 400-Meter-Bahnen. Aber gerade die erschwerten Bedingungen erfordern besonderes Feingefühl – und auch Härte. „Unsere Athleten sind Huckel auf der Bahn gewohnt, die stürzen nicht so leicht“, sagt Heike Reinwarth. Das Freilufttraining von Mitte Oktober bis Mitte März ist eine harte, aber gute Schule. „Das sind jedenfalls keine Laborbedingungen“, sagt Hoffmann.
Doch ihre besten Talente müssen die Dresdner an die Bundesstützpunkte schicken. Wann dafür der richtige Zeitpunkt ist, ist ebenfalls ein Streitpunkt. Der Verband will, dass die Besten vor dem Abitur an die Leistungszentren gehen sollen. Hoffmann meint, es wäre erst danach sinnvoll. „Sie sind mit 16 Jahren als Persönlichkeiten noch nicht so weit, dass sie sich anderswo durchsetzen. Sie brauchen ihre Familie, ihr gewohntes Umfeld“, argumentiert der Coach. So mussten sie die Dresdner Clemens Gawer und Ole Jeske nach Berlin ziehen lassen. Ersterer hat seine hoffnungsvolle Karriere im Vorjahr mit gerade einmal 23 Jahren beendet, Jeske (20) ringt um Anschluss an die deutsche Elite.

Hoffmann und seine Trainerkollegen fragen sich, weshalb ihre Vorarbeit in Berlin nicht fortgesetzt wird. „Wir hatten gute Junioren, die drei Jahre lang vorn in der Weltspitze mitgemischt haben und sogar WM-Medaillen gewinnen konnten. Ich gehe davon aus, dass wir im Nachwuchs gute Arbeit geleistet haben und die Talente dann weiterentwickelt werden. Das ist aber nicht passiert.“ Der Vorwurf steht nun im Raum. „Dass man Talente nur unter Laborbedingungen in der Halle entwickeln kann, ist jedenfalls Quatsch“, findet der 58-jährige. Aber gerade dieses Argument hört er immer wieder vom Verband. „Uns wurde jahrelang signalisiert: Es kommt ja aus dem Juniorenbereich nichts nach. Daran kann es aber nicht liegen.“
Das wirft die Frage nach der internen Kommunikation im Verband auf. Offenbar wird viel zu wenig miteinander geredet, oder der Meinungsaustausch ist eine Einbahnstraße: „Geredet wird gar nicht, uns werden viele Dinge einfach oktruiert“, betont Hoffmann. Den amtierenden Nachwuchs-Bundestrainer Daan Rottier nimmt er von seiner Generalkritik aus. „Aber auch er hat sich bestimmten Sachen zu fügen“.
Wie der Festlegung, die aussichtsreichsten Talente an die Bundesstützpunkte abgeben zu müssen. „Wir müssen die abgeben, Schluss, aus, Feierabend“ sagt Hoffmann. Dass der Schritt nötig ist, darüber besteht gar kein Diskussionsbedarf – aber über den Zeitpunkt. „Wir haben einfach nicht das Trainerpotenzial, um die Leute dann noch in die internationale Spitze zu bringen. Was uns ärgert, ist, dass uns vorgeworfen wird, wir könnten keine starken Junioren entwickeln.“

Der Austausch von so vielen Expertisen wie möglich verläuft, wenn überhaupt, sehr schleppend. Denn auch zum Thema um die ewige Claudia Pechstein hat André Hoffmann eine Meinung, die man nicht teilen muss, aber über die man zumindest diskutieren sollte. Der Verband lässt die fast 48-Jährige ihr eigenes Ding machen. Die fünffache Olympiasiegerin trainiert in dieser Saison mit einem polnischen Team.
Die wurschteln alle alleine
„Claudia ist jetzt fast 50, sucht sich aber keine Nachwuchsläufer, die sich von ihr auf allen Ebenen etwas abschauen könnten. Vielmehr sucht sie sich Leute, die sie unterstützen, damit sie weiter gut läuft – und das sind leider nicht unsere Talente“, sagt Hoffmann und spinnt seine Idee weiter. „Wenn ich Bundestrainer wäre, hätte ich zu Claudia gesagt: Ich tue alles dafür, dass du noch einmal zu Olympia kommst. Aber du sorgst im Gegensatz dafür, unsere Talente mit ins Boot zu holen und denen zu zeigen, wo die überhaupt hinmüssen.“
Das werde aber nicht gemacht – mit der Konsequenz: „Hier erfährt doch niemand, was die Pechstein eigentlich besser macht. Die wurschteln alle alleine vor sich hin,“ kritisiert der Erfolgscoach. Doch in gewissem Sinn trifft das auch auf Dresden zu. Hier liegt seit Jahren ein Konzept zur Überdachung der Freilufteisbahn in der Schublade. Das würde die Rahmenbedingungen an dem Standort optimieren, wo Karin Enke, Christa Luding oder Andrea Schöne zu Weltstars ihrer Sportart wurden. Für gerade mal drei Millionen Euro.