Der Mann, der Dynamo Beine macht

Es ist ein Nebensatz, der beinahe untergeht in der Diskussion um den strittigen Elfmeter. Dabei sagt er viel aus über die Leistung von Dynamo im torlosen Unentschieden beim FC St. Pauli. „Wir sind gelaufen, bis die Füße qualmten“, sagt Markus Kauczinski. Der Trainer belässt es nicht bei der bildhaften Beschreibung, sondern wird konkret: „Wieder über 120 Kilometer.“
Das ist ein Spitzenwert für ein Spiel in der 2. Fußball-Bundesliga, Tabellenführer Arminia Bielefeld liegt auch in dieser Statistik mit durchschnittlich 117, 4 Kilometern vorn. Dynamo bringt es auf 113,6. Allerdings haben die Dresdner ihre Bilanz nach der Winterpause bereits erheblich verbessert, denn auch gegen Karlsruhe (1:0) und in Heidenheim (0:0) spulte die Elf auf dem Platz zusammen mehr als 120 Kilometer ab. Im Umkehrschluss heißt das, in der Hinrunde waren sie deutlich weniger unterwegs. Woran mangelte als also: an der Fitness oder der Bereitschaft?
Weder noch, sagt Matthias Grahé. Der 51-Jährige, der aus Bad Muskau stammt, ist seit Saisonbeginn als Athletik- und Fitnesscoach bei der SGD maßgeblich für den körperlichen Zustand der Profis verantwortlich. Er führt den Wandel auf die taktische Umstellung nach dem Trainerwechsel zurück. Während Cristian Fiel auf Ballbesitz setzte mit vielen Pässen auf engstem Raum, lässt Markus Kauczinski den Gegner früh unter Druck setzen. „Die Mechanismen trainieren wir intensiv, wo sie wann anzulaufen und wie sie zu verschieben haben“, erklärt Grahé den Unterschied.
Natürlich schaue er auf die Daten. „Das ist schon verwunderlich auch für mich, aber im positiven Sinne. Wenn man bedenkt, dass es gegen Aue nur 99 Kilometer waren …“ Das Sachsenderby im Erzgebirge hat Dynamo mit 1:4 verloren, es gilt im Rückblick als der Anfang der Misere. Tatsächlich hatte man manchmal das Gefühl, die Dresdner würden mit dem Klein-Klein ihr eigenes Spiel zum Stillstand bringen, Ballgeschiebe im Mittelfeld statt Attacke.
Die Vorgabe ist jetzt eine andere, aber Grahé betont: „Das hätten die Jungs in der Hinrunde auch machen können, die Grundfitness, die Grundkondition war gegeben.“ Andernfalls würde er das auf seine Kappe nehmen, sagt er, denn sowohl unter Fiel als auch jetzt bei Kauczinski darf er die Fitnesseinheiten bestimmen. „Ich werde nicht gebremst oder eingeschränkt. Was ich für notwendig halte, wird gemacht.“ Aber er mache nichts anders. „Das hätten wir so schnell doch gar nicht hingekriegt, dafür war die Vorbereitung im Winter zu kurz. Wenn wir das erst hätten draufpacken müssen, würde die Leistungskurve jetzt runtergehen.“
Der Kopf spiele sicher eine Rolle, räumt Grahé ein. „Wir sind Letzter. Wenn jedem klar ist, worum es geht, ist man bereit, eine gewisse physische Grenze zu überschreiten.“ Aber das funktioniert eben nur, wenn alle Komponenten stimmen. Das beste Beispiel ist eben Chris Löwe, der in der 83. Minute die 60 Meter vom eigenen zum gegnerischen Strafraum rennt und die Grätsche des Gegenspielers dankbar annimmt. Über den Strafstoß lässt sich streiten, es bleibt die Erkenntnis, etwas zusetzen zu können.
Das könne der entscheidende Punkt sein im Kampf um den Klassenerhalt, meint Grahé, der als Torwart wegen schwerer Bandscheibenvorfälle mit 21 vor dem Karriereende stand. „Ich konnte mir nicht mal mehr selbst die Schuhe anziehen“, erzählt er. Seine eigene Erfahrung in der Reha hat ihn auf den Gedanken gebracht, Physiotherapeut zu werden und sich auf den Sport zu spezialisieren. „Durch meine Leidensgeschichte weiß ich, wie schön es ist, wenn du jemanden hast, auf den du dich verlassen kannst, der dich wieder hinkriegt.“
Durch viel Fitnesstraining und Rumpfstabilisation – „Was ich jetzt auch mit den Jungs mache.“ – konnte er noch bis Mitte 30 zwischen den Pfosten stehen, bevor er über das Reha-Zentrum Cottbus zunächst beim Nachwuchs des FC Energie einstieg. Ab 2008 war er unter Chefcoach Bojan Prasnikar dann in der Bundesliga für die Profi-Mannschaft verantwortlich. Während dieser Zeit hat er seine Frau Anika kennengelernt. Sie drückt Energie die Daumen, er war schon in der Jugend ein glühender Dynamo-Fan.
Umso mehr würde ihn ein Abstieg treffen, aber so weit soll es nicht kommen – auch dank der höheren Laufleistung. „In der zweiten Liga sind die Mannschaften fußballerisch sehr, sehr nah beieinander, vielleicht Stuttgart, Hamburg, Bielefeld uns voraus“, meint Grahé. In den Spielen auf Augenhöhe „entscheiden die Körner, die du ab der 80., 85. Minute noch hast, also ob du sowohl mental bereit als auch physisch in der Lage bist, zum Beispiel noch den Sprint zu machen wie eben Chris auf St. Pauli.“ Und dieses 0:0 bis zum Schluss mit aller Kraft zu verteidigen.
Punk-Musik beim Joggen in den Ohren
Der Fitnesscoach ist selbst ein leidenschaftlicher Läufer. „Für mich ist das ein Stück Lebensqualität“, sagt er. Zwei-, dreimal in der Woche joggt er im Großen Garten, gerne zu zweit, aber auch alleine. „Dann mit Musik“, verrät er und schmunzelt bei der Nachfrage, was es dabei auf die Ohren gibt: „Alles, was ein bisschen Feuer gibt: Metallica, Feine Sahne Fischfilet, die Punk-Richtung.“
Er sehe sich in einer Vorbildfunktion. „Ich bin keiner, der einen 60-Meter-Pass spielen kann“, meint der Athletiktrainer, „aber im Kraftraum und beim Laufen bin ich den Jungs ebenbürtig.“ Für sie ist die Kilometerzahl allein jedoch kein Maßstab, denn wie Kauczinski zu Recht anmerkte, waren sie auf St. Pauli in Hälfte eins „immer einen Schritt zu spät“. Deshalb war er froh, den Spielern zwei Tage frei geben zu können. „Man hat ihnen angemerkt, dass wir viel gekämpft haben, viel gelaufen sind“, erklärte der Chefcoach.
Zudem geht die Aufholjagd nicht nur in die Beine. „Die physische Beanspruchung ist die eine Seite, die psychische Belastung die andere“, sagt Grahé. „Wir kämpfen seit Wochen gegen den verfluchten Abstiegsplatz, das ist vom Kopf her eine schwierige Herausforderung. Ich finde, sie nehmen das sehr gut an.“ Auch das geht nur, wenn das Vertrauen in die eigenen Stärken da ist: fußballerisch wie läuferisch.