Von Hartmut Landgraf
Holger Natusch hatte fest damit gerechnet, dass er in der schäbigen, vollgestopften Dachkammer des Königsteiner Rathauses früher oder später auf ein Stück Weltgeschichte stoßen würde. Und dann hielt er es wirklich in den Händen: Ein einzelnes Blatt, fleckig, vergilbt und an den Rändern zerfallen – eine Bittschrift aus Europas Schicksalsjahr 1813.

In Deutschland tobte der Befreiungskrieg gegen Napoleon. Einen kurzen Augenblick lang spielte Königstein auf dieser Weltenbühne eine Nebenrolle. Auf der Ebenheit unterm Lilienstein entstand ein französisches Heerlager, in dem zeitweilig bis zu 4 000 Soldaten stationiert waren. In Königstein ließ Napoleon Schiffe requirieren und zwei Schiffbrücken über die Elbe schlagen. Für seinen Verlust verlangte ein Königsteiner Schiffer später Entschädigung von der Stadt. Dieses Gesuch blieb zwei Jahrhunderte lang in den Aktenregalen der Stadtverwaltung erhalten. Nun hat es Holger Natusch wieder hervorgezogen.
Der Dresdner und sein Radebeuler Kollege Udo Kühn haben eine Mammutaufgabe übernommen. Sie wollen Ordnung bringen ins Schriftgut der Königsteiner Stadtgeschichte, das momentan mehr einer eingestaubten Altpapiersammlung gleicht. Unlängst hat der Stadtrat Natusch und Kühn offiziell grünes Licht für diesen Berg Arbeit gegeben. Die beiden Ortschronisten wollen die Schätze des Archivs neu sortieren, katalogisieren, in einer Datenbank erfassen und diese – so das Fernziel – im Internet zugänglich machen. Außerdem wollen sie an der Stadtchronik weiterarbeiten.
Holger Natusch blickt über die Kohorten von Mappen, Ordnern und Dokumenten, die hier auf 25 Quadratmetern versammelt sind, und gibt sich keinen Illusionen hin. „Das ist eine Lebensaufgabe“, sagt er nüchtern. In den Regalreihen herrscht ein riesiges bibliografisches Durcheinander. In eine Reihe bräunlicher Ordner mit wenig aufschlussreichen Inhaltsvermerken wie „Kasse“, „Kultur“ und „Bau“ haben sich völlig art- und themenfremde Akten verirrt mit Aufschriften wie „Tombola 1971“, „Pflanzenschutz 1969“ oder „Privat 1928“. Die Dachkammer gleicht einem Verwirrspiel ohne Regeln und System. Ein Spiel, in dem es aber darum geht, Hunderte – vielleicht Tausende wahllos neben- und übereinanderlagernde Dokumente in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen.
Die Werkzeuge, mit denen sich Natusch und Kühn über diese heroische Aufgabe hermachen, wirken primitiv: himmelblaue Pappkartons, in die das Schriftgut einsortiert werden soll – streng nach Inhalt und in chronologischer Ordnung. Manches wertvolle Original, das hier schlummert, müsste im Grunde gründlich vom Staub der Jahrhunderte befreit und konserviert werden, sagt Holger Natusch. Dafür aber fehlt der Stadt das Geld. Durch Umbetten und Digitalisieren könne man für die alten Papiere schon viel erreichen.
Tatsächlich könnten sich unter dem, was die beiden Ortschronisten im Archiv ausgraben und sortieren, einige Überraschungen befinden. Natusch beispielsweise hat in der Rumpelkammer Rechnungen zu Bauvorhaben aus dem 16. Jahrhundert zutage gefördert, nach denen sich mancher Bauhistoriker vielleicht die Finger lecken würde. Vieles davon muss zunächst einmal entziffert und transkribiert werden, weil es teils in Latein und mundartlichem Sächsisch verfasst wurde. Dabei bekommen Kühn und Natusch kräftig Unterstützung von einem Rentner aus Gohrisch und weiteren Geschichtsfreunden.
Noch steht die Arbeitsgruppe ganz am Anfang. Holger Natusch blickt sich in der Kammer um und fühlt sich wie ein Schatzgräber. „Ich bin überzeugt, dass hier noch einiges schlummert, was für die Regionalgeschichte interessant sein könnte“, sagt er. Und dann: „Wir müssen es bloß finden.“