Ein Kriegsende im Konzentrationslager

Eine heroische Massenszene wie aus einem Film von Sergej Eisenstein: Todesmutig erheben sich die Häftlinge des KZ Buchenwald am 11. April 1945 gegen die Wachmannschaften und befreien es gewaltsam von der SS. So erzählt es Bruno Apitz im Roman „Nackt unter Wölfen“. So zeigt es auch Frank Beyers Defa-Werk von 1963. Dieses Finale wurde zu einer Bild-Ikone des DDR-Geschichtsbildes. Bis heute prägen Buch und Film im Fühlen und Denken ganzer Generationen das Buchenwaldbild und das Verständnis vom antifaschistischen Widerstand der Kommunisten. Nur – ganz so wie Apitz und der Film zeigten hat es sich nicht zugetragen. Vielmehr war die SS bereits im Abzug, erfolgte die „Selbstbefreiung“ des Lagers kampflos.
Natürlich dürfen Literatur und Film die Historie ausschmücken. Aber sie müssen es nicht. Die Neuverfilmung von „Nackt unter Wölfen“, vor fünf Jahren von Phillip Kadelbach gedreht und am Mittwoch im Ersten zu sehen, tut es auch nicht: Als die SS weg ist, kommen die Häftlinge zögernd aus ihren Baracken, stehen auf dem Appellplatz herum, verwirrt, ratlos, von der neuen Situation völlig überfordert. „Genauso hat Bruno es damals erlebt und empfunden“, sagte dessen Witwe Kiki Apitz zur Filmpremiere 2015. „Auf einmal sollte das ganze schreckliche Leiden vorbei sein? Er hat es einfach nicht begreifen können.“
Der neue „Nackt unter Wölfen“ entstand in der Ufa-Fiction-Werkstatt unter den Händen von Großproduzent Nico Hofmann. Also dort, wo unter anderem auch „Dresden“, „Rommel“ und „Unsere Mütter, unsere Väter“ herkommen. Die Befürchtungen vieler Fans der Erstverfilmung lauteten entsprechend: Wollte man jetzt auch bei „Nackt unter Wölfen“ alles anders und besser machen als in der DDR? Einen typischen West-Geschichtsfilm? Ein Event gar?
Kiki Apitz hatte davor keine Angst. „Ich bin dem Drehbuchautor Stefan Kolditz sogar dankbar, dass er den Mut und den Drang hatte, sich dieses Themas noch einmal anzunehmen“, sagte sie. Das taten Kolditz, Kadelbach und Hofmann auf eine Weise, die in vielem anders ist und sein muss, auch im Äußerlichen. Beyers zurückhaltend inszeniertes Drama ähnelt stellenweise einem kunstvoll arrangierten Kammerspiel. Das hebt die Konflikte zwischen den Figuren hervor, auch die ideologischen Auseinandersetzungen, es legt dramatische Dichtungsringe um die Handlung, betont den Kampf gegenüber dem Leid.
Konflikt zwischen Ideologie und Menschlichkeit
Die Neuverfilmung hingegen weitet die Dramatik aufs gesamte Szenario. Sie ist detailreicher, entspricht dem heutigen Drang nach einem historisch-naturalistischen „Look“ und möglichst lebensnaher, weniger stilisierter Emotionalität. „Der Roman berührt mich immer noch direkt körperlich“, sagte Produzent Nico Hofmann. „Natürlich muss auch ein Film darüber emotional sein, darf aber keinesfalls voyeuristisch werden.“ Auch sein Team hätte um die Geschichte des jüdischen Kindes, dessen Leben von Buchenwald-Häftlingen gerettet wurde, ein traditionelles Melodram bauen können. Das aber haben sie nicht gewollt. Stefan Kolditz war eher daran gelegen, die Kernbotschaft des Buches wieder stärker herauszuschälen.
„Apitz zeigt den Konflikt zwischen Ideologie und Menschlichkeit“, so der Drehbuchautor. Denn zunächst wollten die Kommunisten das Kind schnell wieder loswerden, weil dessen Entdeckung ihren geplanten Aufstand gefährden könnte. „Erst indem sie sich von dieser ideologischen Haltung abkehren und sich für die Menschlichkeit entschließen, können sie es retten“, so Kolditz. Selbst wenn sie dafür, um das Entdeckungsrisiko zu reduzieren, den polnischen Verwandten des Kindes anstelle eines anderen Häftlings auf einen Todesmarsch schicken. „Ideologie zerstört Menschlichkeit – genau darum ging es Bruno Apitz. Aber so ist das leider nicht wahrgenommen worden, sondern als Hohelied auf die Kommunisten.“
Die deutlichsten Unterschiede zwischen beiden Filmen liegen in der Gewichtung bestimmter Handlungselemente. Schon im Roman sind jüdische Häftlinge eine Leerstelle; die Kommunisten hatten wie im offiziellen Geschichtsbild weder eine Leidens- noch eine Opfer-“Konkurrenz“. Kadelbachs Film macht die Juden wieder sichtbar, ebenso den massenhaften Dreck, den Schmutz, das furchtbare Leid. Unter den Funktionshäftlingen, den Kapos, gibt es nun auch solche, die Mitgefangene unterdrücken. Denn unter den Kommunisten gab es ebenfalls viele Unterschiede, Differenzen, Widersprüche. „Einerseits halfen sie Mitgefangenen, andererseits arbeiteten sie der SS zu, in der Lagerverwaltung“, bestätigt Autor Stefan Kolditz. Gleichwohl erzählten alle vier Buchenwald-Häftlinge, die das Filmteam zuvor interviewt hatte, sie hätten ohne die Hilfe des kommunistischen Widerstands nicht überlebt. „Eine wirklich heroische Leistung“, sagt Produzent Nico Hofmann.
Verschiedene Erinnerungskulturen in Ost und West
Keinesfalls soll der neue Film erscheinen als Kritik oder Gegenentwurf zu Roman oder Defa-Drama. Er tut es auch nicht. Zu groß, zu sicht- und zu spürbar ist der Respekt des Teams von 2015 gegenüber Bruno Apitz und Frank Beyer. Vielleicht auch deshalb ist eben kein Event daraus geworden; für das Genre heutzutage durchaus bemerkenswert.
Mit „seiner“ Neuverfilmung wollte Nico Hofmann einen Beitrag leisten, die verschiedenen Erinnerungskulturen in Ost und West miteinander zu verbinden. Dafür hat „Nackt unter Wölfen“ durchaus einiges Potenzial. Was an seiner gesamtdeutschen Herkunft liegen könnte: Hofmann und Phillipp Kadelbach stammen aus dem Westen, Stefan Kolditz und Jana Brand, die einflussreiche Spielfilmchefin des koproduzierenden MDR, aus dem Osten.
Welcher Film ist gelungener? Der Vergleich fällt schwer und taugt nicht zum Maßstab. Auch Kiki Apitz konnte da kein Urteil fällen. „Manches finde ich am einen besser, manches am anderen. Sie gehen unterschiedlich an die Geschichte heran und setzen sie anders um“, sagte sie. „Jeder Film entspricht nun mal seiner Zeit und seinen Entstehungsumständen. Es sind ja Geschichten, nicht die Geschichte.“
„Nackt unter Wölfen“, 20.15 Uhr, ARD