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Ein Kuss in Variationen

Eine Ausstellung im Görlitzer Kaisertrutz gibt erstmals einen umfassenden Überblick zum Expressionismus in der Stadt.

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© Museum

Von Anett Böttger

Görlitz. Scheinbar zart berührt eine Frau den Kopf des Mannes, der sie küsst. Er hat die Augen geschlossen, während sie mit wachem Blick nach oben schaut. Die intime Momentaufnahme ist inmitten eines farbenfrohen Wandbehangs festgehalten, den der Künstler Willy Schmidt 1934 schuf. Gleich mehrfach griff er das Bildmotiv auf. Als Keramik, auf einem Ausstellungsplakat, in Druckgrafiken oder auf einem Gemälde ist „Der Kuss“ dargestellt. Immerhin neun Arbeiten allein zu diesem Thema finden sich in der neuen Ausstellung, die das Kulturhistorische Museum in Görlitz dem Expressionismus in der Neißestadt widmet.

1914 malte der Expressionist Fritz Neumann-Hegenberg die Görlitzer „Peterskirche im Winter“.
1914 malte der Expressionist Fritz Neumann-Hegenberg die Görlitzer „Peterskirche im Winter“. © Museum

Was Willy Schmidt in den frühen 1930-er Jahren veranlasste, das Innigkeit ausstrahlende Motiv in mehreren Varianten und mit verschiedenen Techniken zu verewigen, bleibt allerdings im Dunklen. Könnte es eine persönliche Beziehung gewesen sein? „Wir wissen es nicht“, gesteht Kai Wenzel, Kurator der Sonderschau. Unter dem Titel „Unerhört“ wird sie am 1. Juni im Görlitzer Kaisertrutz eröffnet.

Schmidts Wandteppich ist die einzige textile Arbeit in der Ausstellung, die veranschaulicht, dass Expressionismus zahlreiche Facetten und Ausdrucksformen hat. Zugleich führt gerade dieses Exponat die Vielseitigkeit des äußerst produktiven Künstlers vor Augen, der eine prägende Rolle gerade für diese Kunstrichtung in Görlitz hatte und dem Besucher an verschiedenen Stellen der Schau begegnet.

Gleich im Entree hängt Schmidts Gemälde „Dame in Gelb“, eingerahmt von historischen Fotografien aus Görlitz. Nach einem Aufruf hatte das Museum aus der Bevölkerung rund 200 Amateuraufnahmen aus den 1920-er Jahren erhalten. Alle werden zu sehen sein, entweder auf der Wand am Eingang oder auf einem Monitor. Die Bilder von Straßenszenen, Partys, Arbeitern oder Sportlern sollen die Besucher in die Zeit hineinführen, als der Expressionismus nach Görlitz kam.

Die Kunstrichtung ließ alte Konventionen hinter sich und lotete neue Freiheiten aus. Ihre Ursprünge liegen in den Großstädten Berlin, München und Dresden, wo 1905 die Künstlergruppe „Brücke“ entstand. Doch auch Görlitz schaffte die Entwicklung zu einem überregional bedeutenden Ort des Expressionismus. Die Ausstellung rückt diesen besonderen Stellenwert nun erstmals in den Fokus.

„Wir entwerfen eine lange Erzählung“, sagt Kurator Kai Wenzel. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und des deutschen Kaiserreiches hielt die neue Strömung vor etwa 100 Jahren schnell in Görlitz Einzug. Romantische Porträts und liebliche Stadtansichten, etwa mit der Peterskirche, sollen den Kontrast zu dem verdeutlichen, was das Publikum künftig aushalten musste: „Etwas völlig Gegensätzliches.“

„Der Expressionismus ist in die Stadt hineingetragen worden“, erläutert der Kunsthistoriker und nennt zwei Namen: Fritz Neumann-Hegenberg und Joseph Anton Schneiderfranken. Die beiden organisierten die lokale Kunstszene völlig neu, indem sie zusammen mit anderen expressionistisch arbeitenden Malern den Jakob-Böhme-Bund gründeten. Auf geschickte Weise gelang es ihnen, Interesse für die neuartige Kunst zu wecken. „Es entsteht tatsächlich ein Publikum“, sagt Wenzel.

Viele Werke von Neumann-Hegenberg gelten als verschollen. Dass ein Bild von ihm mit der Neiße im Winter zufällig bei einer Internet-Auktion entdeckt wurde, scheint ein Glücksfall zu sein, auch weil Landschaftsmalerei im Expressionismus eher selten vorkommt. Das Görlitzer Museum erwarb das Werk 2017 aus Privatbesitz und zeigt es nun erstmals öffentlich. Der Künstler ist außerdem mit einer Studie zu seinem Werk „Golgatha“ in der Ausstellung vertreten, das 1937 als „entartete Kunst“ diffamiert und zerstört wurde. Überhaupt setzte der Nationalsozialismus eine harte Zäsur, auch für die Kunstszene in Görlitz. Viele Akteure gingen ins Exil, darunter Johannes Wüsten, der 1919 an der Gründung der „Hamburgische Secession“ beteiligt war. Die Künstlergruppe hatte den Expressionismus in Hamburg etabliert. Andere wählten die innere Emigration oder erhielten, wie Willy Schmidt, Arbeits- und Ausstellungsverbot.

„Unerhört“ vereint mehr als 200 Exponate. Etwa drei Viertel davon stammen nach Angaben von Wenzel aus dem eigenen Bestand. Leihgaben anderer Sammlungen und aus privatem Besitz ergänzen die Ausstellung, die auch Architektur und Literatur einbezieht. „Die Lebenden“ beispielsweise waren expressionistische Flugblätter, die der Verleger Ludwig Kunz zwischen 1923 und 1931 in loser Folge herausgab. Auf dem Titel erschienen stets Druckgrafiken junger deutscher Künstler. Da Kunz Jude war, flüchtete er 1938 nach Amsterdam.

Die Ausstellung über Expressionismus in Görlitz beleuchtet das bislang unterbelichtete Thema ausgesprochen umfassend, indem sie einordnet, Bezüge herstellt sowie mit einer Fülle an Themen, Stilen und Techniken überrascht. Zugleich schlägt sie einen Bogen in die Gegenwart und zeigt am Beispiel der Malerin Waltraud Geisler aus Jauernick-Buschbach, dass die Kunstrichtung in der Region durchaus weiterlebt. Bis zum 4. November ist Gelegenheit, die Ausstellung im Kaisertrutz zu besuchen. „Man muss mehrfach kommen“, findet Kai Wenzel. Zum vielfältigen Begleitprogramm mit Kunstpausen, Führungen und Vorträgen gehören auch Spaziergänge, die an Wirkungsorte von Künstlern in Görlitz führen.

Die Ausstellung öffnet am 1. Juni, um 18 Uhr, im Kaisertrutz, Platz des 17. Juni 1 in Görlitz. Ab 2. Juni ist sie dienstags bis donnerstags von 10 bis 17 Uhr sowie freitags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr zu besichtigen.

www.goerlitzer-sammlungen.de