13. Februar, Dienstag nachmittag bei vollkommenem Frühlingswetter – Gestern nachmittag ließ mich Neumark hinüberrufen; ich müßte heute vormittag beim Austragen von Briefen behilflich sein. Ich nahm das ahnungslos hin. Abends war Berger eine Weile bei mir oben, ich erzählte es ihm, und der sagte geärgert, das werde um Schanzarbeit gehen. Noch immer erfaßte ich nicht die Schwere der Bedrohung... Dann sagte er mir: Evakuation (Evakuierung – d. R.) für alle Einsatzfähigen, es nennt sich auswärtiger Arbeitseinsatz, ich selber als Entpflichteter bliebe hier. Ich: Also für mich sicherer das Ende als für die Herausgehenden. Er: Das sei nicht gesagt, im Gegenteil gelte das Hierbleiben als Vergünstigung... Das auszutragende Rundschreiben besagte, man habe sich am Freitag (16. Februar – d. R.) früh im Arbeitsanzug mit Handgepäck, das eine längere Strecke zu tragen sei, und mit Proviant für zwei bis drei Rei-setage in der Zeughausstraße 3 einzufinden. Vermögens-, Möbel- etc. Beschlagnahme findet diesmal nicht statt, das ganze ist ausdrücklich nur auswärtiger Arbeitseinsatz – wird aber durchweg als Marsch in den Tod aufgefaßt...
Die Dresdner Vernichtung am 13. und 14. (Dienstag, Mittwoch) Februar 1945
Piskowitz, 22.-24. Februar – Wir setzten uns am Dienstag abend (13. Februar – d. R.) gegen halb zehn zum Kaffee, sehr abgekämpft und bedrückt, denn tagsüber war ich ja als Hiobsbote herumgelaufen... Da kam Vollalarm. „Wenn sie doch alles zerschmissen!“ sagte erbittert Frau Stühler, die den ganzen Tag herumgejagt war, und offenbar vergeblich, um ihren Jungen freizubekommen. – Wäre es nun bei diesem ersten Angriff geblieben, er hätte sich mir als der bisher schrecklichste eingeprägt, während er sich jetzt, von der späteren Katastrophe überlagert, schon zu allgemeinem Umriß verwischt. Man hörte sehr bald das immer tiefere und lautere Summen nahender Geschwader, das Licht ging aus, ein Krachen in der Nähe. Pause des Atemholens, man kniete geduckt zwischen den Stühlen, aus einigen Gruppen Wimmern und Weinen – neues Herankommen, neue Beengung der Todesgefahr, neuer Einschlag. Ich weiß nicht, wie oft sich das wiederholte... Ich müßte den Stern entfernen. Darauf riß Eva (Klemperers Frau – d. R.)mit einem Taschenmesserchen die Stellavon meinem Mantel.
Klotzsche 15. Februar, Donnerstag morgen – 17. Februar, Sonnabend abend – Die erste Wonne war der Riesenkessel Nudelsuppe im Schlafsaal. Ich nahm ruhig den Löffel eines alten Mannes , der vor mir gegessen hatte. Ich aß drei tiefe Teller. Dann gingen wir auf Suche nach unseren Leuten und fanden sie rasch in einem ganz ähnlichen Saal eines ganz ähnlichen anderen Hauses... In der Nacht zum Sonnabend hörte ich ununterbrochene Fliegerei. In dieser Nacht kam mir auch der Gedanke: Piskowitz. Bei Tisch (Sonnabend mittag also) erfuhren wir dann, am Sonntag werde der Fliegerhorst von allem Zivil geräumt... Da glaubten wir, Piskowitz dürfte uns ein tieferes Untertauchen ermöglichen, und trafen unsere Vorbereitungen zur Abreise.
Piskowitz, 19. Februar, Montag nachmittag – Immer wieder bewegt mich die doppelte Gefahr. Die Gefahr der Bomben und der Russen teile ich mit allen anderen; die der Stella ist meine eigene und die weitaus größere... In diesem Chaos und bei der Vernichtung aller Amtsstellen und Verzeichnisse... Übrigens hätte ich gar keine Wahl; mit dem Stern würde ich sofort ausgesondert und getötet. Ich sagte mir immer, wer wolle mich kennen, zumal wir uns aus dem Dresdener Bezirk entfernten. Kamenz ist eigene Amtshauptmannschaft. Hier fragten wir Agnes zuerst, ob sie im Ort je erzählt habe, daß... Antwort: niemanden. Der junge Bürgermeister nun wollte wissen, wie wir auf Piskowitz verfallen seien. Ich: Agnes sei lange Jahre bei uns in Stellung gewesen.
Auszüge aus: Victor Klemperer „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“ - Tagebücher 1942-1945, Aufbau-Verlag GmbH, Berlin 1995.