Ein tragischer Totschlag

Drei Tage hat sich das Landgericht Dresden mit dem tragischen Fall des Rentners Siegfried M. und seiner Ehefrau beschäftigt. Der 80-Jährige hat im August vergangenen Jahres seine schwerkranke Frau Dagmar M. getötet und wollte unmittelbar danach auch seinem eigenen Leben ein Ende setzen. Als er jedoch im zehnten Stock seines Wohnhauses in der Gerokstraße mit der Hilfe einer Trittleiter über das Balkongeländer geklettert war, hatten ihn Mut und Kraft für diesen letzten Schritt verlassen. „Ich habe sie erlöst“, sagte der Angeklagte vergangene Woche zum Auftakt seines Prozesses vor der Schwurgerichtskammer. Er habe gespürt, dass seine Frau nicht mehr haben leben wollen.
Der Vorsitzende Richter Martin Uebel nimmt dem Angeklagten ab, was er sagte. Hauptsächlich sei es dem Angeklagten darum gegangen, seiner Frau, mit der er fast 59 Jahre verheiratet war, ein weiteres Leiden zu ersparen. Allerdings habe er ein Leben beendet – das bedeutendste Rechtsgut der Verfassung sei der Schutz des menschlichen Lebens, so Uebele.
Dagmar M. habe am 2. Mai 2018 einen schweren Hirnschlag erlebt, von dem sie sich nie wieder erholte. Sie war unter anderem halbseitig gelähmt und nicht mehr in der Lage zu kommunizieren, von ihrer Mimik und Gestik auf einem sehr niedrigen Level einmal abgesehen. Der Richter nannte es „tragisch“, dass an jenem 2. Mai die Patientenverfügung von Dagmar M. nicht zur Hand war. Sie hatte darin für einen solchen Fall lebenserhaltende Maßnahmen abgelehnt. Siegfried M. fühle sich bis heute schuldig, dass er die Verfügung damals nicht habe vorlegen können.
Nach der Behandlung in der Uniklinik sei die 77-Jährige sechs Wochen zur Reha gewesen. Doch größere Fortschritte seien weder erkennbar noch erwartbar gewesen. Weil noch keine Einrichtung für die Langzeitpflege der Patientin gefunden worden war, brachte man die Frau Anfang August in ihre Wohnung zurück. Es seien alle Vorsorgemaßnahmen ergriffen worden, die man treffen konnte, so Uebele – ein Pflegebett in der Stube, Pflegedienste, die viermal am Tag vorbeikommen, Ergo- und Physiotherapeuten, Logopäde, Ärzte.
Uebele stimmte der Staatsanwältin zu, die in ihrem Plädoyer gesagt hatte, dass dieser Prozess „die Grenzen und Vorteile unseres Gesundheitswesens“ aufgezeigt habe. Für Siegfried M. jedoch sei die Versorgung seiner Frau eine sehr schwere Aufgabe gewesen – eine „Forderungs- und Überforderungssituation“, sagte der Vorsitzende. Es sei nachvollziehbar, dass dem 80-Jährigen die Aufgaben schnell über den Kopf wuchsen. Seine Angst etwa, Besorgungen zu machen und nicht zu Hause zu sein, wenn der nächste Pfleger klingelt. Das sei ihm auch nicht vorzuwerfen.
Er habe sich auch nach Kräften bemüht, den Erwartungen gerecht zu werden – doch irgendwann habe er einen ersten Abschiedsbrief geschrieben, in dem er die Tat und seinen eigenen Tod ankündigte, weil er nicht mehr gekonnt habe. „Sie haben alles mit sich selbst ausgemacht“, sagte Uebele zum Angeklagten. „Sie haben weiter gepflegt, aufopferungsvoll“, aber die Situation sei nicht besser geworden. M. hätte einen Hilferuf absetzen können, an seine Tochter oder seinen Sohn, die sich ebenfalls gekümmert hätten, oder auch an die Pflegerinnen und Pfleger. „Ich schaff es nicht mehr“, hätte M. sagen können – die Rechtsordnung könne es nicht tolerieren, dass M. mit sich selbst abmacht, seine Frau zu ersticken.
Am Sonnabend habe M. besonders viel zu tun gehabt, weil Verwandte zu Besuch waren. Am Sonntag, dem 19. August, dann habe sich die Ehefrau morgens Windeln und Katheder abgerissen, es muss für M. eine schwer zu ertragende Situation gewesen sein, als er sich spontan dazu entschlossen habe, seine Frau zu ersticken. Auch in dieser Situation hätte M. den Notruf wählen oder einfach auf die Pflege warten müssen, die kurz nach 9 Uhr gekommen sei. Neben dem Motiv, seiner Frau das Leiden zu ersparen, komme ein Stück weit auch, sich selbst eine schwere Last zu nehmen.
Das Schwurgericht verurteilte den 80-Jährigen wegen Totschlags in einem minder schweren Fall zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten. Die Staatsanwaltschaft hatte fünf Jahre und zehn Monate gefordert. Verteidiger Peter Hollstein dagegen eine Freiheitsstrafe von maximal zwei Jahren, die noch zur Bewährung ausgesetzt werden könne. Immerhin befinde sich sein Mandant seit siebeneinhalb Monaten in Untersuchungshaft. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.