Von Henry Berndt
Wie süß, die Kleinen, wird sich Johann Sebastian Bach vielleicht denken. Von seinem gewaltigen Sockel vor der Leipziger Thomaskirche blickt seine Statue hinab auf eine Gruppe wartender Menschen. Tatsächlich fällt die Gruppe hier kaum auf. Nur wenn sich ein Kirchenbesucher durch sie hindurch schlängelt, wird deutlich: All diese Menschen sind doch ganz schön lang. Plötzlich wirken sie wie Bäume, nur längst nicht so hölzern.
Etwa 250 der größten Menschen Europas treffen sich in dieser Woche in Leipzig zum Gedankenaustausch, aber auch zum Wandern und Feiern. Eingeladen hat der „Klub der Großen“, und gekommen sind Lange aus ganz Deutschland, aber auch Großbritannien, Österreich, Norwegen und Finnland. Der Verein ist das Ost-Pendant zum westdeutschen „Klub Langer Menschen“. Konkurrenz gibt es allerdings kaum. Überhaupt unterscheiden sich die Klubs praktisch nur in den Aufnahmekriterien: Im Osten müssen Frauen mindestens 1,85 Meter messen, Männer 1,95 Meter. Im Westen reichen jeweils fünf Zentimeter weniger. Beim Europatreffen sind beide Vereine vertreten, und zwar mit allen Altersgruppen und Bevölkerungsschichten.
Ein fast Einheimischer überragt sie alle. Yves Missal, Verwaltungsbeamter aus Halle an der Saale, misst stolze 2,20 Meter. Die meisten der anderen Gäste reichen ihm maximal bis zu Nase. Der 39-Jährige ist seit 1996 im Verein. Er gehört zu einem Organisationsteam von 15 Leuten, das ein vollgepacktes Freizeitprogramm für die ganze Woche auf die Beine gestellt hat: Diskussionen, Ausflüge, Sport und Tanz. Nur das Paddeln musste abgesagt werden, als es am Mittwoch Bindfäden goss.
Diagonal im Doppelbett
Am Freitag, bei schönstem Sonnenschein, ist ein Stadtrundgang durch das historische Leipzig an der Reihe. Dabei lauern auch Gefahren: Fast spießt sich Missal die Spitze der zwei Meter hohen Hellebarde des Nachtwächters ins Gesicht. Am Eingang zur Thomaskirche muss er den Kopf einziehen. Auch in Missals Alltag ist seine Körperlänge allgegenwärtig. Sein Bett zu Hause ist 2,40 Meter lang, im Hotel liegt er meist diagonal im Doppelbett. Hemden, Hosen und Schuhe in Größe 54 findet er nur bei wenigen Spezialanbietern. Die Sitzabstände in Bus, Bahn und Flugzeug sind für ihn viel zu eng. Da hilft auch die Globalisierung wenig. Auch europäische Normen richten sich bislang eher nach den kleineren Südeuropäern. Lange haben keine Lobby.
Ewig suchte Missal daher auch nach einem geeigneten Auto, bis er sich in einem VW Golf die Sitzschienen verlängern lassen konnte. All das gibt es nicht zum Schnäppchenpreis – staatliche finanzielle Unterstützung bekommt er keine, da extreme Körperlänge nicht als Behinderung gilt. In seiner Altbauwohnung in Halle hängen die Decken glücklicherweise hoch. Nur in den Türen muss Missal sich ducken.
Beim Rundgang durch Leipzig läuft Missal immer ein Stück von der Gruppe entfernt. Man muss ja nicht mehr auffallen als nötig. „Die Blicke der Leute sehe ich gar nicht mehr“, sagt er mit einer Bassstimme, die selbst Gunther Emmerlich vor Neid erblassen lassen müsste. Andere haben größere Probleme mit ihrer Länge. Vor allem lange Kinder würden unter den Lästereien in der Schule („Eine große Dürre wird kommen“) leiden, erzählen Gäste.
Irgendwie habe so ein besonderes Merkmal aber auch seine angenehme Seite, findet Missal. „Man kommt schnell mit den Leuten ins Gespräch.“ Solange das respektvoll ablaufe, hat er auch nichts gegen ein Erinnerungsfoto. Gut erinnert er sich noch an einen Besuch in New York, als die Amerikaner ihn staunend für den neuen weißen Basketballstar hielten.
Praktisch sei so eine Größe auch bei Steh-Konzerten – allerdings weniger für die Besucher hinter ihm. Das wär’s dann aber auch mit den Vorteilen.
Gesundheitlich geht es Yves Missal ganz gut, im Gegensatz zu vielen anderen überdurchschnittlichen großen Menschen, deren Gelenke häufig streiken und die oft nur noch mit Krücken laufen können. Missal macht bislang nur der Rücken ziemlich zu schaffen. Dagegen helfen ihm nur tägliche Gymnastik und Kraftübungen, auch wenn im Fitnesscenter viele Geräte nicht die nötigen Maße für ihn haben.
Attraktion mit Guinness-Rekord
Als größter lebender Mann der Welt gilt derzeit übrigens laut Guinness Buch der Rekorde Sultan Kösen aus der Türkei mit offiziell gemessenen 2,51 Metern. Stolz vermarktet Kösen sich selbst als Attraktion, posiert auch schon mal mit Kleinwüchsigen oder seinem Schuhmacher. Derlei Wunsch nach Aufmerksamkeit teilt er allerdings mit den wenigsten Langen. „Große Menschen fallen ohnehin auf, nur kleine müssen sich durch Lautstärke hervortun“, sagt Andreas Eichhorn aus Naumburg (Sachsen-Anhalt), selbst 2,06 Meter. Seine Frau Evelyn misst immerhin 1,92 Meter. Die beiden haben sich im Klub kennengelernt. Heute haben sie zwei Kinder. Der Sohn ist 2,02 Meter groß, die Tochter mit zwölf schon 1,80 Meter. Zum Vergleich: Im Schnitt sind Männer in Deutschland laut Statistischem Bundesamt 1,78 Meter groß, Frauen 1,65 Meter. Nur rund ein bis drei Prozent liegen weit darüber.
Zum Abschluss des Europatreffens der Langen freut sich Yves Missal besonders auf den Galaabend am Sonnabend im Hotel Westin. Seinen Anzug für den Ball hat er sich eigens bei einem Schneider nach Maß anfertigen lassen. Eine Partnerin hat Missal derzeit nicht. Welcher Anlass würde sich also besser anbieten, um vielversprechende Kontakte zu knüpfen.