„Behinderung macht keinen Unterschied“

Ungewohnt fühlt es sich für sie an. Elisabeth Wünschmann steht neben Elisabeth Wünschmann. Das Original neben einem lebensgroßen Foto. Mitten auf Pirnas Markt. Die junge Frau ist Teil der Aktion „Leben. Ganz normal.“, mit der die Lebenshilfe Pirna-Sebnitz-Freital all jene in den Mittelpunkt stellt, die mit Behinderten, Pflege- und Betreuungsbedürftigen arbeiten. Sie will Aufmerksamkeit lenken auf die Herausforderungen und Freuden dieser Arbeit und sie will vor allem Wertschätzung einfordern. Es ist keine übliche Werbeaktion, die am Dienstagabend in Pirna erstmals präsentiert wurde.
Die Idee dazu entstand vor reichlich einem Jahr und kam von den Lebenshilfe-Mitarbeitern selbst. Die überall fehlende Zeit wurde zum roten Faden. Davon wünschen sich die Mitarbeiter mehr, weil sie mit Menschen arbeiten. Davon erzählen sie in einem eigens für die Kampagne produzierten Buch, Zitate aus diesen Gesprächen klingen auf den großen Werbetafeln mit den Fotos an, die in Pirna zu sehen sind. Es sind die Geschichten vom Alltag der Pflegeberufe in Deutschland. Elisabeth Wünschmann hat eine Nacht drüber schlafen müssen, als sie gefragt wurde, ob sie an dieser Aktion teilnimmt. Sich so in die Öffentlichkeit zu stellen, ist eigentlich nicht ihre Sache. Sie hat abgewogen und festgestellt: „Ich stehe dafür ein.“ Für ihre Arbeit, für die Menschen, mit denen sie arbeitet, dafür, dass sich etwas bewegt in der Gesellschaft.
Die Menschen, mit denen Elisabeth Wünschmann und ihre Kollegen arbeiten, sind Behinderte. Elisabeth Wünschmann nennt sie Klienten. „In erster Linie sind es Menschen. Wie du und ich. Nur eben mit einer Behinderung. Aber was macht das schon für einen Unterschied?“ Für Elisabeth Wünschmann, ihre Kollegen, ganz viele Ehrenamtliche: keinen. Für andere einen immer noch sehr großen. Ihnen sagt Elisabeth Wünschmann: „Es ist nicht immer nur alles doof und anstrengend und schlimm. Wäre es so, würde ich den Job nicht mehr machen.“
Die Werbe-Idee der Lebenshilfe bekommt am Dienstagabend in Pirna sogar ministeriale Anerkennung. Sachsens Sozialministerin Barbara Klepsch (CDU) nennt sie „wahnsinnig toll“. Sie helfe, Türen zu öffnen, Barrieren abzubauen. Zur Präsentation der Kampagne sind viele Vertreter von Politik, Wohlfahrtsverbänden und sozialen Trägern ins Tom-Pauls-Theater gekommen. Einer fehlt: der Pirnaer Landtagsabgeordnete Oliver Wehner (CDU). Lebenshilfe-Vorstand Ralf Thiele kann sich einen Seitenhieb nicht verkneifen. Wehner habe es als Vorsitzender der Pflege-Kommission des Landtags in fünf Jahren nicht geschafft, ein einziges Mal bei der Lebenshilfe im Landkreis vorbeizuschauen. Dafür kam Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) am Dienstagabend noch kurz nach Pirna. Über Kretschmers Anerkennung und Unterstützung freut sich Thiele – und nun auch über eine neue Aufgabe.
Mehr Zeit. Aber wie?
Auf Wunsch des Ministerpräsidenten soll Thiele gemeinsam mit dem Kommunalen Sozialverband und den Wohlfahrtsverbänden in Sachsen konkrete Vorschläge zur Entbürokratisierung in der Pflege erarbeiten. Wenn das dazu führt, dass sich Pflegende mehr Zeit für die Menschen nehmen können, die sie betreuen, dann sind ein wichtiges Anliegen der Aktion und ein großer Wunsch der Lebenshilfe-Mitarbeiter erfüllt. Die Bereitschaft der Politik, sich überhaupt damit zu beschäftigen, sei ein wichtiger Schritt, sagt Thiele.
Für Elisabeth Wünschmann geht der Alltag weiter. Er besteht aus ganz vielen Gesprächen, Telefonaten und manchmal auch dem Umziehen eines Klienten, der sich im Auto übergeben musste.
Die Werbetafeln stehen bis Freitag in Pirna und werden dann wandern. Eine Station soll der Dresdner Zoo sein, hat Michael Kretschmer am Dienstag in Pirna angeregt. Und weil das mit der Aktion aufgegriffene Thema nicht nur eines der Lebenshilfe ist, will sie sich mit dem ASB und der Volkssolidarität zu einem Aktionsbündnis zusammentun, kündigt Ralf Thiele an.
Elisabeth Wünschmann und die anderen gewöhnen sich gerade daran, öfter angesprochen werden. „Ich hoffe, die Aktion trägt zu mehr Verständnis bei“, sagt sie. „Wenn Arbeit mit Behinderten, das Reden darüber und die Anerkennung dafür nicht mehr ungewohnt sind, wenn wir Menschen als Menschen wahrnehmen, dann sind wir alle ein Stück weiter.“
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