Von Tilo Berger
Am Computer könnte Ronny Bräuer (Name geändert) wohl so manchem Hochschulabsolventen etwas vormachen. Doch das weiß fast niemand. Der junge Görlitzer spricht nicht viel, am wenigsten über sich selbst. „Wenn er schmunzelt, ist das seine Art, zu etwas Ja zu sagen“, weiß Werner Rößler. Der 53-Jährige gehört zu den ganz wenigen Menschen, die hinter die unsichtbare Mauer blicken können, die Ronny um sich gebaut hat.
In den vergangenen drei Monaten saßen die beiden häufig am selben Tisch, so wie auch an diesem Morgen um acht. Werner Rößler hat den jungen Mann bewusst um diese Stunde bestellt. Ronny Bräuer wäre nicht der Erste, der einen Termin im einstelligen Uhrzeit-Bereich schwänzen würde. Doch der 21-Jährige mit der Bürstenfrisur erscheint pünktlich. Seine Mutter begleitet ihn, auch so etwas erlebt Werner Rößler nicht alle Tage.
Einsfünfzig pro Stunde
Ihr Treffpunkt ist wie meist der Görlitzer Multimediapark, ein Computer-Bildungszentrum für jedermann. Hier hat zugleich der Verein Lausitz-Matrix seinen Sitz. Der Verein ging hervor aus einem Beirat von Unternehmern und Fachleuten, die den Multimediapark in seinen ersten Jahren fachlich unterstützten. Seit Dezember 2005 trägt Lausitz-Matrix die Verantwortung für das Projekt: „Bridges – Brücken in Arbeit“. Ältere Langzeitarbeitslose sollen unter 25-Jährige auf dem Weg in Arbeit oder Ausbildung begleiten, sozusagen eine Brücke ins Berufsleben bauen. Den Auftrag und das Geld dafür bekam der Verein vom Dienstleistungszentrum für Arbeit in Görlitz und der Arge NOL. So heißen jene beiden Hartz-IV-Behörden, die sich in der kreisfreien Neißestadt und im Niederschlesischen Oberlausitzkreis um die Empfänger von Arbeitslosengeld II kümmern.
Werner Rößler weiß, was es heißt, lange ohne Job und Stammgast auf Arbeits- und anderen Ämtern zu sein. Nach vielen Jahren auf dem Bau kam die Entlassung. Seit einem Unfall ist er zu 50 Prozent erwerbsgemindert und braucht eine Arbeit, bei der er zu je einem Drittel sitzen, stehen und laufen kann. Die bekam er bei Lausitz-Matrix.
Erst mal Vertrauen finden
Um den Jahreswechsel wählte ihn die Görlitzer Hartz-IV-Behörde für das „Bridges“-Projekt als sogenannten Senior-Coach aus. Auf Deutsch würde man vielleicht sagen als Trainer mit Erfahrung. Seit einer Schulung für diese Tätigkeit ist er jetzt einer von acht solchen Trainern in Görlitz und dem Niederschlesischen Oberlausitzkreis. 1,50 Euro pro Stunde, 100 Stunden im Monat. In dieser Zeit kümmert er sich wie jeder „Senior-Coach“ um zwölf bis 15 junge Leute, Frauen und Männer wie Ronny Bräuer.
Werner Rößler hat eine Weile gebraucht, um von dem schweigsamen 21-Jährigen einiges über sein Leben zu erfahren. „Er musste erstmal Vertrauen zu mir finden. Vertrauen ist das Wichtigste überhaupt“, sagt er. Immerhin vertraute der junge Mann ihm an, dass da mal etwas mit dem Vater passiert sein muss. Die Eltern trennten sich, der Junge machte um sich dicht, ging nicht mehr zur Schule, ließ niemanden an sich heran, zog mit dem 18. Geburtstag von zu Hause aus. Als andere ihre Abschlusszeugnisse erhielten, bekam Ronny nichts – er hatte zu viele Stunden in der Schule gefehlt. Den Verlockungen zu teuren Handy-Verträgen und Bezahlfernsehen konnte er nicht widerstehen. Doch dann fehlte das Geld für die Miete – eines kam zum anderen. Da gab ihm die Görlitzer Hartz-IV-Behörde die Telefonnummer des Matrix-Vereins, wo er Werner Rößler kennenlernte.
An diesem Morgen sitzen sie sich nun wieder gegenüber. „Haben Sie den Lebenslauf fertiggestellt? Wie steht’s mit dem Plan zum Schuldenabbau?“, will der Rößler wissen. Ronny Bräuer gibt ihm ein paar Blätter aus seiner Tasche. Der Trainer wird ihm später am Tag noch den Tipp geben, die Papiere lieber in Klarsichthüllen zu ordnen, statt lose in einer Mappe mit sich zu tragen. Aber für’s Erste ist schon gut, dass der junge Mann alles bei sich hat. Wie man Bewerbungen und Lebensläufe abfasst, steht auf einer Diskette, die Werner Rößler und seine Trainer-Kollegen ihren Schützlingen in die Hand drücken.
Polnisch für die Arztpraxis?
Kurz nach neun Uhr treffen sich die vier Görlitzer Trainer zum täglichen Rapport. Sabine Schaffer, Geschäftsführerin von Lausitz-Matrix, fasst den letzten Tag zusammen. Da rief zum Beispiel ein junger Mann an wegen eines Ein-Euro-Jobs in der Gastronomie. Senior-Coach Christa Knittel hatte da sofort was – gleich am nächsten Wochenende. Wochenende? Der Anrufer schien wenig begeistert, wollte aber hingehen. Christa Knittel auch: „Ich guck mir das mal an, wie er sich dort macht.“ Eine junge Frau mit Polnisch-Kenntnissen hat sich gemeldet. Die Trainer wollen sich für sie ans Telefon klemmen. Vielleicht braucht ja eine Krankenkasse jemanden, um Arztrechnungen polnischer Patienten zu bearbeiten. Oder der Zoll. Oder hat irgendeine Firma Handbücher oder Gebrauchsanweisungen zu übersetzen? Ein anderer Schützling hat sich telefonisch beim Verein abgemeldet: Aus seinem Praktikum ist eine Festanstellung geworden.
Abstottern statt urlauben
Ronny Bräuer nutzt unterdessen einen Internet-Platz im Multimediapark, um Tipps für Bewerbungsgespräche zu lesen. Anschließend fährt er mit Werner Rößler ins Görlitzer Arbeitslosenzentrum. Schuldnerberaterin Monika Neugebauer geht mit ihnen Punkt für Punkt durch. Ist das Handy gekündigt? Das Bezahlfernsehen? Konnte er sich mit seinem Vermieter auf Ratenzahlung zum Abstottern der Schulden einigen? Monika Neugebauer lobt den jungen Mann für seinen am Computer erarbeiteten Entschuldungsplan. „Jetzt müssen Sie das aber auch so durchhalten!“, mahnt sie den 21-Jährigen. Der erzählt leise von einer superbilligen Türkei-Reise, die er im Internet gefunden habe. „Leben Sie sparsam und legen Sie sich ein Sparbuch an, wo Sie Ende des Monats jeden übrig gebliebenen Euro drauftun“, rät die Beraterin mütterlich. „Dann klappt’s auch mal mit Urlaub.“
Vom Arbeitslosenzentrum fährt Rößler mit seinem Schützling weiter zum Görlitzer Dienstleistungszentrum für Arbeit, der Hartz-IV-Behörde. Berufsberaterin Ricarda Walter will erstmal wissen, was der junge Mann am liebsten machen möchte. „Software entwickeln“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Niemand im Raum zweifelt groß daran, dass Ronny Bräuer das könnte – doch die Beraterin erklärt ihm die Bedingungen für solche Berufe. Da steht ein guter Schulabschluss ganz oben. Sie drückt ihm eine dicke Broschüre in die Hand, in der er sich kundig machen kann. Werner Rößler hat gute Nachrichten, vor wenigen Tagen hat er mit der Chefin eines Görlitzer Bettenhauses gesprochen. Dort kann Ronny Bräuer ein Praktikum machen, um seine Eignung als Lagerarbeiter zu testen. Wenn das gut läuft, klappt es vielleicht auch mit einer Lehrstelle, sagt die Berufsberaterin. Ronny Bräuer schmunzelt.
„Das ist das Problem: Er sagt nicht, was er kann“, erzählt Werner Rößler, nachdem sich die beiden für diesen Tag verabschiedet haben. Auch bei seinem nächsten Schützling ist das so: Die junge Frau ist gewissenhaft, gründlich – und schüchtern. Ehe sie sich etwas zutraut, sagt sie lieber erst mal vorsichtshalber Nein. „Ich habe mit ihr ein paar Stunden auf einer Parkbank gesessen und geredet“, erinnert sich der 53-Jährige. Mit dem, was er danach über sie wusste, besorgte er ihr einen Ein-Euro-Job in einem Büro. Dorthin führt sein letzter Weg für diesen Tag. Die Mitarbeiter sind des Lobes voll über die junge Frau. Sie selbst blickt etwas verschämt in die Runde. „Kopf hoch“, fordert Werner Rößler. „Sie können doch was, das haben Sie bewiesen.“ Nun will er sich so lange ans Telefon klemmen, bis er eine feste Stelle für die junge Langzeitarbeitslose findet.