Von Jörg Stock
„Jawoll“, sagt die alte Dame mit hartem Zungenschlag. Zum Urlaub, da ging es immer an die Ostsee, ans Haff und die Kurische Nehrung. Spazieren gehen, baden. Auch schwimmen? „Jawoll. Aber nur mit Schwimmring.“
Olga Franz hatte die Lacher auf ihrer Seite. Überhaupt war sie gestern der Mittelpunkt im Seniorenheim Lindenhof von Kurort Hartha. Dort feierte Frau Franz ihren 100.Geburtstag. Die Heimleitung schmiss ein Sektfrühstück, Personal, Mitbewohner, Bürgermeister und auch die drei Söhne der Jubilarin stießen mit ihr an.
„Mir geht es sehr gut. Alles ist in bester Ordnung“, sagte Olga Franz an ihrem Ehrentag. „Und das ist viel wert.“ Viel wert vor allem, wenn man die bewegte Lebensgeschichte von Olga Franz hört. Schicksalsschläge, tragische Verluste und harte Arbeit musste sie aushalten, um sich und ihren Kindern das Auskommen zu erkämpfen.
Dabei hatte alles so schön angefangen. In bescheidenem Wohlstand verlebte Olga Franz die Jugend auf einem kleinen ostpreußischen Gut nahe Königsberg. Etwa vierzig Hektar Land, dazu Pferde, Vieh und Kleingetier. Ab und zu ging es mit dem Zug in die Ostpreußen-Metropole, zum Einkaufen und Kaffeetrinken. Später wohnte Olga Franz auch da. „Königsberg war eine große Stadt, eine schöne Stadt“, erinnert sie sich.
Groß und schön, bis der Krieg kam und alles in Trümmer sprengte. Unter großen Entbehrungen schlugen sich die Franzens in der russisch besetzten Ruinenstadt durch. Ohne Mann und Vater, der 1941 schon an der Ostfront gefallen war. Und immer auf dem Sprung, wenn die Besatzungsmacht den eben eingerichteten Wohnraum anderweitig brauchte. Sohn Ulrich Franz, heute 72, erinnert sich noch an die Odyssee. „In dieser Zeit sind wir bestimmt sechs- bis achtmal umgezogen“, sagt er. Auf den Tisch kamen die kargen Karten-Rationen, mit etwas Glück aufgebessert durch Milch und Butter vom Schwarzmarkt. Zu allem Elend gesellte sich noch der Typhus. Jemand anderes hätte in diesem Jammertal vielleicht aufgegeben, meint Udo, 66, der jüngste der Franz-Brüder. „Aber unsere Mutter sagte sich: Du musst deine Söhne durchbringen. Sie hat einen unbeugsamen Überlebenswillen.“
Erst 1948 verließ die Familie Königsberg, in notdürftig hergerichteten Güterwagen und mit kaum etwas mehr als dem, was sie auf dem Leibe trug. „Wir hatten nichts. Gar nichts“, sagt Lothar Franz, 70. „Sogar meine Stiefel habe ich noch eingebüßt.“
Die Reise endete erst bei einem Bauern in Unkersdorf. Dort gab es viel zu tun und kargen Lohn. Aber wenigstens musste niemand hungern. Olga Franz fing bei IFA in Wilsdruff an der Stanze an. Ihre Söhne studierten und wurden Ingenieure.
In den Urlaub ist Frau Franz aber nie wieder gefahren. Auch nicht nach Königsberg, das heute Kaliningrad heißt und zu Russland gehört. Sie will die Stadt auch nicht wiedersehen. Ihr Königsberg, das gibt es nur noch in der Erinnerung.