Von Jana Ulbrich
Ganz vorn im Fotoalbum klebt das Bild eines jungen Mädchens mit einem winzigen Kind auf dem Schoß: Marie* tippt mit dem Zeigefinger auf das Baby: „Das bin ich“, erklärt die Sechsjährige. „Und das“, sie tippt auf das junge Mädchen, „das ist meine Bauch-Mama.“ Einen Bauch-Papa hat Marie auch. Eifrig blättert sie ein paar Seiten weiter. „Hier!“ – Auf dem Foto ist ihr leiblicher Vater.
Beatrixe Bauer* streicht ihrer Tochter liebevoll über die blonde Lockenmähne. „Auch wenn sie es jetzt vielleicht noch nicht ganz versteht“, sagt die 35-Jährige: „Wir wollen, dass sie es von Anfang an weiß.“ Beatrixe und Klaus Bauer* haben Marie adoptiert. „Ich komme nämlich von Frau Scharte“, plappert die Kleine, als wäre das die größte Selbstverständlichkeit.
Gerlind Scharte arbeitet in der Adoptionsvermittlungsstelle des Landratsamts. Paare aus dem Kreis Bautzen, die sich mit dem Gedanken tragen, ein Kind zu adoptieren, kommen an ihr und ihrer Kollegin Kathrin Casper nicht vorbei. Fast jede Woche sitzen neue Bewerber bei den Adoptionsvermittlerinnen. Es sind fast immer Paare, die keine eigenen Kinder bekommen können. Aber dieser Weg vom Wunsch zum Kind ist lang. Manchmal sehr lang. Bei Beatrixe und Klaus Bauer hat er mehr als sechs Jahre gedauert und dauert immer noch.
Bauers lebten 2003 noch in Bayern, als sie dort ihren ersten Adoptionsantrag stellen. Sie lassen ein langes Prüfungsverfahren über sich ergehen. Sie legen ein polizeiliches Führungszeugnis vor, ein Gesundheitszeugnis und einen ausführlichen Lebensbericht. Sie nehmen an Vorbereitungskursen für Pflegeeltern teil. Dreimal bekommen sie Besuch von Mitarbeiterinnen aus dem Jugendamt. Ein Kind aber bekommen sie nicht. Im katholisch geprägten Bayern sind Fremdadoptionen selten. 2006 ziehen die Bauers zurück in die Heimat, in ein schönes Haus in einer gepflegten Siedlung an der Großen Röder. Sie fahren als Erstes zur Adoptionsvermittlungsstelle. Gerlind Scharte lässt sich von den Kollegen in Bayern die Unterlagen schicken. – Auch sie muss das Ehepaar jetzt noch einmal kennenlernen. „Eine intensive Prüfungszeit ist wichtig“, erklärt die Sozialpädagogin, „vor allem auch für die künftigen Eltern selbst.“ Viele hätten am Anfang nur eine sehr vage Vorstellung davon, was es heißt, ein fremdes Kind als sein eigenes anzunehmen, sagt sie. Da sind die Vorgeschichten der Kinder, die sie selbst als Neugeborene schon haben. Da sind vielleicht traumatische Erlebnisse, die sie in ihrem ganzen Leben nicht loswerden können. Da sind womöglich Krankheiten oder bleibende Folgen von Alkohol- oder Drogensucht der leiblichen Eltern. Kinder, die zur Adoption freigegeben werden, kommen in der Regel nicht aus geordneten und wohlbehüteten Familienverhältnissen. Auch wenn den leiblichen Eltern der letzte, endgültige Schritt fast immer schwerfällt.
Manche, wie die leibliche Mutter von Marie, wollen die künftigen Eltern ihres Kindes sogar kennenlernen. „Diese erste Begegnung war richtig hart“, erinnert sich Klaus Bauer. „Das ist doch irgendwie eine groteske Situation, wenn eine Mutter dasitzt und sagt: Es ist mir recht, dass mein Kind jetzt zu Ihnen kommt.“
Er schaut rüber zu Marie und wird nachdenklich. Das Mädchen scheint seinen Blick nicht zu spüren. Sie sitzt noch immer ganz überm Fotoalbum vertieft. In der Lockenmähne wippen lustige Schleifchen. „Sie ist ein aufgewecktes Kind“, sagt ihre Mama, „manchmal aber ziemlich ängstlich und sehr angepasst, so, als ob sie sich große Mühe geben würde, bloß nicht aufzufallen oder bloß nichts falsch zu machen.“ Marie ist damals 15 Monate alt, trägt ein beigefarbenes Kleid mit lila Ärmeln, als sie zu den Bauers kommt. Es ist der 1. Dezember 2009. Beatrixe und Klaus Bauer sind überglücklich. „Jetzt haben wir ein Kind“, sagt Beatrixe zu ihrem Mann. Sie haben das kleine Mädchen von der ersten Begegnung an ins Herz geschlossen. Marie muss einen Entwicklungsrückstand aufholen. Sie klammert sich an ihre neue Mama und hat ständig Angst, allein gelassen zu werden. „Das Elternsein war am Anfang richtig harte Arbeit für uns“, erzählt Beatrixe Bauer.
Das Ehepaar hatte einer offenen Adoption zugestimmt. Das tun nur die wenigsten Adoptionsbewerber. Offene Adoptionen lassen den leiblichen Eltern die Möglichkeit offen, die Kinder später noch ab und zu treffen zu können. Maries leibliche Mutter hat sich nach den ersten drei Treffen aber nicht mehr gemeldet. Die meisten Paare entscheiden sich für eine halb offene Adoption, bei der die leiblichen Eltern über das Jugendamt Briefe und Fotos erhalten.
In diesem Moment kommt Mark* an den Tisch. Der Dreijährige hat keine Lust mehr, sein Holzauto durchs Wohnzimmer zu schieben. Er will jetzt lieber auch Fotos gucken. Energisch schiebt sich der Kleine neben seine Schwester auf Mamas Schoß. Auch Mark hat sein eigenes Fotoalbum. Auch darin ein Baby-Bild mit Bauch-Mama. Mark ist rechtlich gesehen noch nicht ganz Maries Bruder. Er lebt jetzt seit zwei Jahren bei den Bauers, aber noch immer im Status der Adoptionspflege, der Vorstufe zur rechtskräftigen Adoption. Es kann manchmal lange dauern, bis ein Adoptionsverfahren endgültig abgeschlossen ist.
Der kleine Mark weiß das auch schon mit der Bauch-Mama. Klaus Bauer ist das wichtig. Es soll seinen Kindern später nicht so gehen wie ihm, sagt der 45-Jährige. Er selbst hat es erst als Jugendlicher erfahren: Mitten in einem schönen Urlaub eröffnen ihm die Eltern am Abendbrottisch sein Schicksal. „Ich wollte das nicht glauben“, erzählt er, „und auch gar nicht wahrhaben.“ Er macht sich nicht auf die Suche nach seiner leiblichen Mutter. Er will nicht wissen, wer sie ist und warum.
Nur Beatrixe lässt das jahrelang keine Ruhe. Besonders dann nicht mehr, als sie und Klaus selbst Adoptionsbewerber werden. „Mein Mann ist damals direkt von der Entbindungsstation zu seinen Adoptiveltern gekommen“, erzählt sie. „Die Mutter hätte zu DDR-Zeiten ja auch Opfer einer Zwangsadoption sein können.“ Im Sommer 2009 macht Beatrixe Bauer die leibliche Mutter ihres Mannes ausfindig. Die Begegnung ist enttäuschend. Die Frau schlägt ihr die Tür vor der Nase zu. Ende.
Marie will jetzt mit der Mama kuscheln. Mark will mit Papa raus in den Garten. Wie das so ist in einer richtigen Familie. Manchmal, sagen die Bauers, finden sie sogar Ähnlichkeiten zwischen sich und den Kindern. „Obwohl das ja gar nicht sein kann“, lächelt Beatrixe Bauer und wuselt ihrer Tochter durch die Locken.
Zwölf bis 15 Adoptionen werden im Kreis Bautzen jedes Jahr rechtskräftig. 20 Kinder leben derzeit in Adoptionspflege. 14 Paare stehen auf der Vormerk-Liste.
* Auf Wunsch der Familie sind die Namen geändert.