Von Anja Beutler
Joachim Bernig drückt die Klingel noch einmal. „Hört se ne?“, fragt er und späht durchs Fenster. Dann geht Licht an und Brunhilde Lindner steht in der Tür. Die 67-Jährige weiß, worum es geht. Ihr Nachbar kommt sammeln. Für den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, wie jedes Jahr.
In Sachsen zählt das Dorf zu den besten Sammelorten überhaupt, bestätigen die Mitarbeiter des Volksbundes in Dresden. Sogar eine Auszeichnung haben die Obercunnersdorfer für ihr Engagement schon erhalten. Denn der Volksbund schickt keine eigenen Spendensucher in die Gemeinden, die müssen sich vor Ort finden. Dank Bürgermeister Heinrich Huschebeck, der bereits vor seinem Amtsantritt in Obercunnersdorf im Nachbarort Ottenhain sammelte, ist die jährliche Novemberaktion zur Tradition geworden.
Inzwischen hat Joachim Bernig im Wohnzimmersessel der Lindners Platz genommen. Aus seiner Aktentasche holt er die Liste heraus. „Brunhilde, Du weißt, worum sich’s dreht, schreib bitte Namen und Summe ein.“ Seit „bestimmt zehn Jahren“ seien sie nun dabei, sagt Brunhilde Lindner.
Für einen Ort zum Trauern
Sie will, dass man sich an die Gefallenen erinnert und die Angehörigen einen Ort zum Trauern haben. Anders als bei ihr. Ihr Vater fiel 1943 in Russland, um Weihnachten rum. Drei Jahre war sie alt, könne sich aber noch genau erinnern, sagt sie und wischt eine Träne weg. Bis heute fällt es ihr und der 92-jährigen Mutter schwer, an damals zu denken. Ein Grab zum Trauern hat die Familie nie gehabt. Das Geld wechselt den Besitzer, Joachim Bernig bedankt sich bei den Eheleuten. Auf zur nächsten Station.
Wie die meisten der rund zehn Sammler in Obercunnersdorf, unter denen die Straßen aufgeteilt werden, weiß Bernig genau, wo er klingeln kann oder wo die Leute nichts spenden können oder wollen. Er besucht nicht alle an einem Tag, geht meist am späten Nachmittag, wenn viele zu Hause sind. Eine junge Frau würde ihm gern was geben, habe aber wirklich gar kein Geld im Haus. „Da komme ich noch mal vorbei“, sagt Bernig. Andere haben schon alles zurecht gelegt: Ein Griff in die Geldbörse, eine Unterschrift, ein kurzer Plausch.
In manchen Häusern macht Joachim Bernig aber auch ein wenig länger Station. Wie bei Helmut Frey. Der 87-Jährige sitzt im Rollstuhl und freut sich über seinen Gast. Auch er spendet seit Jahren. Helmut Frey war Matrose im Krieg und hat Glück gehabt. Anders als viele seiner Mitschüler: „Wir waren 24 Jungs in der Klasse, zwölf sind übrig geblieben“, erinnert er sich.
Der 1933 geborene Bernig, der den Krieg als Kind – als Pimpf, wie er sich erinnert – erlebt hat, hört Frey gespannt zu. Oft hört er bei seinen Besuchen Neues, manch einen in den Erzählungen kennt er sogar noch. Bei der Sammeltour durch den Ort geht es eben nicht nur um das Geld allein, sondern vor allem um Erinnerungen – erlebte und weitererzählte.
Netter Plausch an der Haustür
Es ist schon finster als sich Bernig der Haustür von Christine und Werner Wittek nähert. „Ich hab doch gewusst, dass Du wieder kommst“, lacht Christine Wittek als sie öffnet. „Hast Du nicht gesagt, Du gibst das Sammeln bald an Jüngere ab?“ Joachim Bernig nickt. Der Bürgermeister hätte ihm diesmal versprochen, dass es wirklich der letzte Einsatz sei. Wie die anderen Male zuvor auch. Ob nächstes Jahr jemand Jüngeres kommt? Die beiden lachen. „Hast Du diesmal Deinen Hut auch nicht vergessen?“, fragt die Frau Joachim Bernig beim Gehen. Und schon sind die beiden wieder ins Gespräch vertieft.