Eine Stadt verschwindet

Der Bagger kracht in den Beton. An der Könneritzstraße in Dresden fällt demnächst ein Bürobau, dessen Architektur unverkennbar aus der DDR-Zeit stammt. Ein neuer Wohn- und Geschäftspark soll hier entstehen. 800 Meter weiter, am Postplatz, fuhren im November 2018 Laster die letzten Steine des Fernmeldeamtes weg. Das von 1978 bis 1981 errichtete Haus existiert nicht mehr. Auf dem Grundstück Postplatz, Ecke Annenstraße entsteht ein siebengeschossiger Neubau.

Dass Gebäude in Dresden verschwinden, ist zunächst nichts Ungewöhnliches. Hochhaus Terrassenufer 14 weg, Pädagogische Hochschule am Carolaplatz und Eissporthalle an der Pieschener Allee abgebrochen, Wohnzeile Schweriner Straße oder die Plattenbauten an der Prohliser Straße 2 und 2b sowie Berzdorfer Straße 1 – 8 abgerissen, die als Giraffen bezeichneten Lichtmasten zum Beleuchten des Dynamo-Stadions vernichtet. Über 70 einzelne Gebäude sowie Büro-, Geschäfts- und Wohnkomplexe aus der Zeit Anfang der 1960er- bis Ende der 1980er-Jahre sind inzwischen aus dem Stadtzentrum, den Stadtteilen und zugleich aus dem kollektiven Gedächtnis der Dresdner entfernt worden.

Allein in der Innenstadt wurden in den vergangenen zwanzig Jahren laut einer Liste des Stadtplanungsamts 22 Bauten abgerissen. Der Kommune werden nach und nach Stränge ihrer Geschichte aus ihrer Mitte gerissen. Langsam gerät in Vergessenheit, wie die sächsische Landeshauptstadt in der Zeit der DDR ausgestattet war. Der Mythos der barocken Stadt hält sich, doch Dresden prägte ab Mitte der 1960er-Jahre die Moderne, genauer die Ostmoderne. Die Immobilien dieser Zeit verenden oft wie die letzten Exemplare einer aussterbende Tierart.
Um das Jahr 2000 fiel zum Beispiel die Ladenpassage an der Webergasse. 1962 errichtet, folgte damals die Bauweise im rechtwinkligen Zickzack mit Pflanzbeeten „skandinavischer Leichtigkeit“. Die Passage vermittelte wegen ihrer geringen Höhe eine kleinstädtisch anmutende Intimität. Weitere Kennzeichen waren klare Flächen, Transparenz und geschwungene Eleganz. Alles weg, um der Altmarkt-Galerie Platz zu verschaffen. 2009 fiel dann das Linde-Haus, davor Haus des Buches, am Postplatz für die Erweiterung des Shoppingcenters.

Schon 1999 ließ die Stadt die Messehallen des Ausstellungszentrums am Straßburger Platz dem Erdboden gleichmachen, um die Gläserne Manufaktur, eine Autofabrik, bauen zu lassen. Weg ist seit 2007 die HO-Gaststätte am Zwinger, der Fresswürfel, wie ihn die Dresdner nannten. Dort steht heute das SAP-Gebäude, das längst nicht den einmaligen gestalterischen Rang seines Vorgängerbaus hat. Schräg gegenüber des Fresswürfels befand sich seit 1956 die Spätkauf-Baracke, das einstige Autohaus „Start“. 2005 schob es ein Bulldozer zusammen wie eine alte Hundehütte. Mag sein, dass dem Bau keiner nachtrauert, aber dennoch ging er verloren.
Von 1979 bis 2004 existierte ein Polizei-Erweiterungsbau des ehemaligen Volkspolizei-Kreisamtes unweit der Frauenkirche. Ein siebengeschossiger Bau mit terrassierter Fassade samt Aluminium-Fensterbändern und Sandsteinplatten. Dahinter spielten sich Schicksale ab, wurden Dresdner drangsaliert. Abgesehen davon, hatte die Immobilie eine gestalterische Qualität. Auch dieser Teil der Stadt: Verschwunden, vergessen.

Mitte 2017 nahmen Bauleute trotz vieler Proteste das Pinguin-Café im Dresdner Zoo auseinander. Ein Kleinod, Schmuckstück, hinreißender Bau mit großem Charme. Jetzt lagern die abgebauten Einzelteile im Lapidarium, landeten somit nicht sofort im Schredder der Geschichte. Ursprünglich stand das Haus 1969 anlässlich einer Ausstellung zu 20 Jahre DDR auf der Karl-Marx-Allee in Berlin. Der Pavillon in Modulbauweise war damals als Boulevard-Café konzipiert, mit expressiver Architektur und großen Glasflächen, es wurde 1973 nach Dresden geliefert. Der frei stehende, offene, transparente und lichtdurchflutete Bau war ein Zeugnis der experimentierfreudigen Aufbruchszeit der späten 1960er-Jahre in der DDR, wie in Deutschland insgesamt. Dennoch gelang es nicht, ihn unter Denkmalschutz zu stellen. Das Dresdner Denkmalschutzamt hat das Café immerhin als „erhaltungswürdig“ eingestuft, es sei „stadtgeschichtlich wertvoll“.
Der Flachbau mit dem Glaskörper und dem markant gezackten Dach wurde am 14. Juli 1973 eröffnet und kennzeichne eine Epoche, in der sich Architekten bewusst gegen die Enge und Dunkelheit der Vorkriegszeit stellen. Der Pavillon bot knapp 50 Plätze im Gebäude und etwa 200 Plätze auf der Terrasse. Im Inneren hing ein 20 Meter langer Wandfries, der Pinguine am Südpol zeigte. Eine Aluminiumarbeit von Helmut Schmitt diente als Raumteiler. Im Sommer 2017 fiel ebenso das ehemalige Howa-Kaufhaus, das späteren Sporthaus auf der Grunaer Straße. Hier handelte es sich um einen Leichtbau, der an die konstruktive Logik und räumliche Freiheit der Formgestaltung eines Mies van der Rohe denken ließ. Das transparente Gebäude bestach durch seine moderne Tragstrukturen aus Stahl, die eine hohe Variabilität der Nutzflächen und eine großflächige Verglasung der Fassaden ermöglichten. Die Proportionen der später als Teppichhaus genutzten Immobilie stimmten bis ins letzte Detail. Doch die Stadtplaner fanden weder Gefallen noch Interesse an dieser einmaligen Gestaltung. Anfang 2016 verschwand der kleine Glaskubus.

Das Abriss-Prinzip ist immer dasselbe: Erst steht der Bau leer, dann gammelt er vor sich hin, zum Schluss erklären Verantwortliche der Stadtverwaltung, dass das Haus ein Schandfleck und eine Gefahr sei und deshalb aus dem Stadtbild entfernt werden müsse. Dabei geht es vor allem darum, Baufreiheit für die nächste private Investition zu schaffen. Diese Investorenhörigkeit führt dazu, dass Dresden ein Stück seiner urbanen Biografie schwärzt. Das ist kalkulierter Gedächtnisschwund, um die angeblich sozialistische Architektur zu tilgen.
Dabei ist genau diese Bauzeit ein Zeichen einer europäischen Bewegung, die mit neuen Stilen, Formen und Materialien experimentierte. Dresden besaß gelungene Bauten, die allerdings längst zerstört, umgebaut sind oder demnächst abgetragen werden, als wären sie kontaminiert und schädlich für die Seelen der Dresdner.
Auch das einstige Robotron-Rechenzentrum zwischen St. Petersburger Straße und Zinzendorfstraße ist platt. Eine Schmuckwand im Hof des Bürozentrums aus Betonformsteinen fiel im März 2016 nach einem harten Baggerschlag um, Bleiglasfenster im Treppenhaus des Atrium 1 aus dem Jahr 1970 splitterten in tausend Teile. Angeblich nicht zu retten. Andere Fenster aus dem Atrium 2 wurden wenig später sorgsam von der Abrissfirma demontiert und landeten bei einem Antikhändler, der den Wert der Fenster sehr wohl erkannte.

Schon das Verschwinden des Centrum-Kaufhauses auf der Prager Straße gehörte zu einer städtebaulichen Katastrophe. Jetzt steht an dieser Stelle die Centrum-Galerie, ein austauschbares Einkaufsmodular, das eine einmalige, zeitgenössische Architektur ersetzen soll, aber verwechselbar ist wie schwarze Allerweltsschuhe von Deichmann. Das Centrum-Warenhaus wurde 1968 bis 1970 in Ungarn vom Architekten Ferenc Simon und dem Innenarchitekten Ivan Fokvari vom Projektbetrieb AETV Budapest entworfen. Nach der Eröffnung 1978 nannten es Dresdner schnell Silberwürfel. Was damals ins Auge stach und später ungewohnt und pittoresk erschien, waren die silbrigen Waben, die zu einer ornamentalen Textur angeordnet den Kubus umkleideten. Zur Entstehungszeit war diese Silbermode in Ost- wie Westdeutschland äußerst populär.
Ähnliche Kaufhausfassaden entstanden in Leipzig, Magdeburg, Hoyerswerda, Suhl genau wie in Frankfurt am Main. Die 1960er-Jahre waren das Jahrzehnt des Mauerbaus, aber zugleich eines großer Hoffnungen, des Minirocks, der Antibabypille, der sogenannten Beatmusik und vor allem der technischen Fortschritte. So sollte in der metallen schimmernden Materialität eine bestimmte Vorstellung von Zukunft sowie der Raumfahrt ausgedrückt werden. Darüber hinaus war die Leichtmetallfassade preisgünstiger herzustellen als aufwendige teure Natursteinprofile. Produziert wurden die Dresdner Metall-Rhomben in der Sowjetunion.
Das Centrum-Warenhaus stellte eine weltweit einmalige Architektur dar. Heute suchen Städte händeringend nach solchen Alleinstellungsmerkmalen. Dresden verzichtete ohne Not darauf. In jener Zeit, wo über den Abriss des Silberwürfels in Sachsen diskutiert wurde, bauten beispielsweise die US-Amerikaner in Los Angeles in der Form eines großen Segelschiffes mit gebogenen und gewellten Umrissen die Walt Disney Concert Hall mit einer Fassade aus rostfreiem Stahl.
Das mit Titan umkleidete Guggenheim-Museum in Bilbao gab nach dessen Fertigstellung im Jahr 1993 der spanischen Stadt einen enormen Schub, der heute als Bilbao-Effekt beschrieben wird. Aber anstatt in Dresden ein futuristisches Objekt zu sanieren, tauschten es Stadtplaner gegen ein gesichtsloses Irgendwas, das die Waben als Alibi zwar zitiert, aber die einstige Wirkung nicht mehr erreicht.
Neben dem Abrisswahn vollführt Dresden zudem einen Umbauirrsinn. Man muss sich nur das ehemalige Restaurant „International“ auf der Prager Straße ansehen. Es ist seit 2004 völlig zugebaut. Das charakteristische gefaltete Dach und die Betonlamellen sind verschwunden, das Wandbild „Dresden, die Stadt der modernen sozialistischen Industrie, der Wissenschaft und der Kunst grüßt seine Gäste“ von 1969 ist in einer kleinen Gasse hinter dem Billigshop TK Maxx versteckt. Die gesamte Prager Straße ist inzwischen ein Mischmasch aus alter Architektur und dem Versuch, sie irgendwie zu modernisieren. Von einst 17 Metern vor dem Angriff 1945 wuchs die Straße auf 60 Meter an. Hier befanden sich 1978 Pavillons mit Verkaufsräumen. Diese standen durch Pergolagänge miteinander in Verbindung und überall Springbrunnen. Der Puste-Blumen-Springbrunnen war der beliebteste. Ein wässriges Blumenfeld aus Blech und Fontänen. 1969 hatte die Bildhauerin Leonie Wirth ihren Blütenbrunnen entworfen. Zwischen den Pusteblumen hockten Wasserpilze. Nach der Flut 2002 verschwand beim Umbau ein Teil davon.

Der Protest gegen die Verstümmelung ging unter. Auf der Westseite die Hotels, benannt nach der Bastei, dem Lilienstein und dem Königstein in der Sächsischen Schweiz. Auf der Ostseite 240 Meter und zwölf Geschosse standardisiertes Leben. Eine Wohnmaschine mit 612 Zellen. Hier folgten Dresdner Architekten einer Idee des schweizerisch-französischen Architekten Le Corbusier, der schon in den 1920er-Jahren eine Wohneinheit zur massenhaften Unterbringung von Bürgern entwickelte, ein Vorläufer des serienmäßigen Plattenbaus. Die Erbauer der Prager Straße fuhren damals alles auf, was noch bis eben als „kosmopolitische Dekadenz“ galt: geradlinige Kuben, himmelan aufstrebend, rhythmisch gruppiert, mit Fassaden, weiten Glasflächen. Architekturhistoriker feiern diesen Modellfall heute als Meisterwerk der Stadtbaukunst der Nachkriegsmoderne.
Am Pirnaischen Platz steht ein Hochhaus mit seinen 14 Etagen. Es entstand von 1964 bis 1966. Seit dem 1. Mai 1968 prangte oben der Schriftzug „Der Sozialismus siegt“, der ohne Erklärung im Jahr 1987 über Nacht abmontiert wurde. Auch hier Verwahrlosung, die Mieter ausgezogen, weil der Brandschutz nicht mehr gewährleistet sei. Der Investor legte Pläne vor, das Haus auf den neusten Stand zu bringen. Oder wird auch dieses ostmoderne Gebäude demnächst abgerissen?
Als nicht mal 30 Jahre nach der Eröffnung des Centrum-Warenhauses der Silberwürfel 2007 wieder fiel, gestaltete das Sächsische Archiv für Architektur und Ingenieurbau am Zentrum für angewandte Forschung und Technologie e. V. an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden im Haus der Architekten auf der Goetheallee eine Ausstellung: „Dresden – Architektur der Nachkriegsmoderne.“ Der Züricher Architekturhistoriker Sylvain Malfroy fragte damals in einem Gastbeitrag für den Katalog zur Exposition, ob es sinnvoll sei, Dresden mit „mittelmäßigen Anpassungsbauten“ zu stopfen, anstatt auf ein paar hervorragende Bauten zu setzen. Das Fazit, das der Wissenschaftler nach einer Untersuchung der neueren städtebaulichen Maßnahmen entlang der Nord-Süd-Achse des Stadtzentrums zog: „Seit der Wende zeigt sich eine schleichende Banalisierung und Stereotypisierung des baulichen Bestandes.“