Von Carsten Gäbel
Bevor das Unheil begann, schwankte die Natur: In der Nacht zum 27. Juni 1914 ist in ganz Sachsen ein für die Gegend ungewöhnlich heftiges Erdbeben zu spüren. „Die Häuser erzitterten heftig, Türen schlugen und Fenster klirrten“, schreibt danach der „Mügelner Anzeiger“. Auch in Döbeln spürt man den Erdstoß eine Viertelstunde vor drei Uhr in der Früh. Der Herd des Bebens liegt unter Leipzig, wo die Erschütterungen sogar Möbel verschieben.

Die Ersten sterben am Hitzschlag
Am 1. August beginnt der Krieg. Die Einwohner der Stiefelstadt umlagern die Redaktion des „Döbelner Anzeigers“ in Erwartung von Nachrichten. Auf die müssen sie nicht lange warten. Am 27. August vermeldet die Zeitung die ersten Toten des heimischen, in Döbeln stationierten Infanterie-Regiments 139: Sie sind dem Hitzeschlag erlegen. Viele Feierlichkeiten werden aus Respekt vor dem Sterben an der Front gestrichen: Der Herbstmarkt fällt aus und die Behörden erlassen ein Tanzverbot.
Die in der Heimat um ihre Lieben an der Front Bangenden werden von Beginn an in die Versorgung der Truppen einbezogen. Sie sollen bitte spenden, um durchreisende Soldaten zu versorgen, sie sollen ihre Ferngläser abgegeben. Die Betriebe stellen ihre Produktion auf Kriegswirtschaft um, denn das Heer benötigt Geschosse, Wagen, Kisten, Chemikalien und vieles andere mehr. Im Februar 1915 erscheint eine Bekanntmachung über die Regelung der Brot- und Mehlversorgung. Zu Weihnachten 1915 ergeht ein Verbot über das Stollenbacken für private und gewerbliche Zwecke. Der Krieg hält nun auch Einzug am heimischen Küchentisch.
Inzwischen erfahren die Daheimgebliebenen aus Feldpostkarten, dass sich die Soldaten in Lille gern in der Freilichtkneipe „Zum fidelen Blindgänger“ amüsieren. Wer wissen möchte, wie es an den Kriegsschauplätzen aussieht, kann sich auf dem Übungsplatz der Döbelner Garnison in Strölla „eine militärische Feldbefestigung mit zeitgemäßem Zubehör“ anschauen, die dort zu Ausbildungszwecken errichtet wurde. Der Eintritt kostet 20 Pfennig. Die Stadtverordneten diskutieren darüber, ob sie die neue Straße hinter der „Bachschänke“, im Volksmund „In der Beule“ genannt, „Hindenburgstraße“ taufen sollen. Sie entscheiden sich mit der Begründung dagegen, das Sträßchen sei für den Sieger der sogenannten „Schlacht von Tannenberg“ in Ostpreußen zu mickrig. Dort hatten Ende August 1914 deutsche Truppen unter dem Kommando von Paul von Hindenburg ein überlegenes russisches Heer besiegt.
Unterdessen bekommt das eigene 139. Infanterieregiment einen Gedenkstein an der Front in Lille. Was dort nicht steht: Auch die Soldaten der Döbelner Garnison haben sich an Gräueltaten im neutralen Belgien beteiligt. So schrieb etwa der im Infanterieregiment 139 dienende Soldat Arthur Prausch am 10. September 1914 an seinen Bruder: „In Dörfern, wo auf uns geschossen wurde, haben wir das […] Dorf dem Erdboden gleichgemacht. In einem Dorfe sind von uns 35 Männer und auch einige Frauen erschossen worden, darunter 2 Geistliche. […] Sie liegen alle auf einem Haufen. Die Dorfbewohner wurden zusammengetrieben und mußten dem Akte zusehen, wurden dann wieder entlassen.“ Bei einem der bekanntesten Massaker ermorden vorwiegend sächsische Truppen am 23. August 1914 in der belgischen Kleinstadt Dinant 674 Zivilisten.
Im Verlauf des Jahres 1916 erfahren die Menschen beinahe täglich von Rationierungen und Verordnungen zur Verwendung von Lebensmitteln. Im Wappenhenschstift wird eine städtische Speiseanstalt eingerichtet, wo jeder Einwohner zum Preis von 25 Pfennig ein Mittagsgericht erhalten kann. Trotz der Not begehen die Döbelner am 27. Januar 1916 den 58. Geburtstag des Kaisers in ihrer geschmückten Stadt mit Feiern und Platzmusik auf dem Obermarkt.
Kirchenglocken zu Kanonen
Weil die wehrfähigen Männer an der Front sind, kehrt der Stadtkassierer im Ruhestand Oskar Otto Spindler ins Rathaus zurück, um seinem alten Beruf nachzugehen. Im Verlauf des Jahres bekommt Döbeln im ersten Stock der Drogerie „Germania“ an der Burgstraße 2 ein Soldatenheim, wo die in der Stadt stationierten Krieger ihre Freizeit verbringen können. In der Garnison werden neue Truppen für die Front ausgebildet. Außerdem gibt es hier ein Kriegsgefangenenlager für russische Offiziere. Der Großweitzschener Oberlehrer Emil Reinhold schrieb darüber in den zwanziger Jahren: „Ein eigenartiges Bild bot sich im Weltkriege mehrmals, wenn in Döbeln ein verstorbener gefangener russischer Offizier zu Grabe getragen wurde. Hinter dem Sarge schritt inmitten der beiden höchsten Offiziere mit langwallendem Bart und Haar der Pope barhäuptig, dahinter Russen und deutsche Verwundete. Der Tod löschte alle Feindschaft aus.“
1917 gehen die Menschen Ähren lesen und backen heimlich. Die Kohlen werden knapp, doch Kino und Theater laufen weiter. Der 18. Juni ist der heißeste Junitag seit 1848: In der Innenstadt werden beinahe 33 Grad im Schatten gemessen, im Licht-, Luft- und Sonnenbad an der Äußeren Leipziger Straße sogar 51 Grad. Die Mulde ist 24 Grad warm.
Fabrikbesitzer Oswald Greiner senior verdoppelt das Kapital seiner Stiftung für bedürftige Teilnehmer des aktuellen und des Deutsch-Französischen Krieges auf 20 000 Mark. Während des gesamten Krieges gibt es immer wieder Spendensammlungen und Großspenden durch Industrielle für Soldaten und deren Familien. Während die jüngeren Männer an der Front ihre Haut riskieren, üben sich viele Daheimgebliebene in Solidarität. Der Krieg nagt nun auch an der Bausubstanz der Stadt. Ende Juni werden die Glocken des alten Rathauses, die sich seit 1915 auf dem Uhrentürmchen des Bürgerheimes befinden, abgenommen, um sie zu Kriegsmaterial zu verarbeiten. Am 8. Juli erklingen zum letzten Mal die 29, 16, acht und viereinhalb Zentner schweren Glocken der Nicolaikirche. Danach werden sie zerschlagen und ihre Stücke für Kriegszwecke eingeschmolzen. Die Glocken des neuen Rathauses entgehen nur deshalb demselben Schicksal, weil man für das Abnehmen der Klangkörper Teile des Turmes abreißen müsste.
Das Bier wird dünn
Im vierten Kriegsjahr spitzen sich der Mangel, aber auch gesellschaftliche Spannungen zu. Dennoch hat die Stadtverordnetenversammlung den Spielraum, Baumaßnahmen wie eine Umgehungsstraße zu beschließen oder den Ausbau der Gasanstalt zu genehmigen. Am 3. Januar ergeht das Verbot, dass Kraftanlagen zwischen 16.30 und 19 Uhr Strom aus dem Netz entnehmen: Dadurch kann die Druckmaschine des „Döbelner Anzeigers“ nicht durchgängig laufen. Die Zeitungsauslieferung verzögert sich. Die Döbelner werden aufgerufen, für die „minderbemittelte“ Bevölkerung – gemeint waren nicht etwa die Dummen, sondern die Armen – Kleidung zu spenden. Zivilisten erhalten nur noch sogenanntes „Einfachbier“ mit einem Stammwürzgehalt von 3 Prozent. Heeresbier ist doppelt so gehaltvoll. Heutiges Pilsener hat einen Stammwürzgehalt von etwa zwölf Prozent. Nährstoffarm sind außer dem Bier auch andere Lebensmittel. Wegen des Fettmangels wird am Niedermarkt 13 eine Sammelstelle für Knochen eingerichtet. Die Petroleumknappheit lässt Menschen zu Sparlämpchen greifen. Das Brot strecken die Bäcker mit Kartoffeln. Und sogar der Kaffee-Ersatz wird rationiert. Ende April untersagen die Behörden den Bauern das Buttern, damit die Milch nährstoffreicher wird. Am 20. Mai werden die wöchentlichen Fleischrationen auf 150 Gramm herabgesetzt. Das ist nur ein Viertel bis die Hälfte dessen, was die Deutsche Gesellschaft für Ernährung heute empfiehlt und ein Achtel des aktuellen Durchschnittskonsums. Im September verordnen die Behörden den Döbelnern eine fleischlose Woche verordnet. Statt Fleisch wird Mehl ausgegeben. Auf dem Rathausdach demontiert man die Kupferplatten für Kriegszwecke.
Revolution in Döbeln
Der 9. November schließlich, Tag der Revolution, erfasst auch Döbeln. Mit dem Zug kommt eine Gruppe „roter Matrosen“ aus Leipzig und marschiert mit den Arbeitern zur Kaserne. Das Tor wird gewaltsam geöffnet. Im Rathaus verlangt man die Herausgabe der Polizeiwaffen. Noch am selben Tag bildet sich ein Soldatenrat, der später um einen Volksrat erweitert wird. Am Abend des 11. November findet im restlos überfüllten Saal der Muldenterrasse an der Staupitzstraße eine Versammlung statt, auf der Richard Döbbelin von der SPD sowie der Stadtverordnete Vieweg von der USPD sprechen. Am 18. November stellt die Eisenbahn den Schnellzugverkehr ein, weil Truppentransporte die Schienenwege überlasten. Trotz Not und Niederlage schmückt sich Döbeln mit Flaggen und Ehrenpforte am Bahnhofsvorplatz, als das 139. Infanterie-Regiment am 25. November heimkehrt. Die geschlagenen Truppen marschieren unter dem Geläut der verbliebenen Glocken in die Stadt ein. Zu Weihnachten 1918 besteht das Stollenbackverbot fort. Der Krieg ist zu Ende, das Elend aber noch lange nicht, wie Emil Reinhold in den zwanziger Jahren resümiert: „Bitterste Not ist bei vielen eingezogen, wo bis 1914 Wohlhabenheit herrschte.“