Von Nicole Czerwinka
Sonntagmorgen, kurz vor neun an der Radebeuler Spitzhaustreppe. Die Sonne scheint über die Weinberge, knapp acht Grad Lufttemperatur, es ist windstill.



Als ich im blauen Zelt des Gymnasium Luisenstift eintreffe, steht der Sieger des diesjährigen Spitzhaustreppenmarathons längst fest. Heiko Lätsch aus Dresden ist die 100 Runden auf der Treppe in sagenhaften 14:46:09 Stunden gelaufen. Dicht gefolgt von dem Dresdner Frank Wittwer, der nach 14:48:35 Stunden ins Ziel kam. Marco Summermatter aus der Schweiz ist nach 15:06:59 Stunden eingelaufen und dieses Mal der Drittplatzierte.
Ich habe meinen allerersten Lauf auf der Treppe dagegen noch vor mir. Einmal soll es in der Staffel des Gymnasium Luisenstift runter und wieder hoch gehen. Meine Joggingerfahrung: gleich null. Training? Fehlanzeige. Das Luisenstift ist zu diesem Zeitpunkt schon gut im Rennen, wird aller Wahrscheinlichkeit nach den zweiten Platz nach dem Lößnitzgymnasium belegen. „Sie können ganz entspannt an die Sache herangehen“, tröstet mich Sportlehrer Thomas Döring mit einem Lächeln. Seit Mitternacht ist er schon an der Spitzhaustreppe. Zusammen mit seinen sieben Kollegen weist er die blockweise eintreffenden Schüler des Luisenstifts hier für den Lauf ein. Im Gegensatz zu mir haben die knapp 100 Teilnehmer der Staffel jedoch vorher schon mit ihren Lehrern an der Treppe geübt. Ihr Streckenrekord liegt bei elf Stunden und fünf Minuten. „Bei uns zählt das Leistungsprinzip, da sind schon in erster Linie die guten Läufer am Start“, sagt Döring. Auch ich bekomme nun noch ein paar Tipps von ihm: Bequeme Sportkleidung anziehen, ein bisschen warm machen. Immer schön rechts laufen, treppab etwas schneller, treppauf dafür Kräfte einteilen. Kurz darauf pinnt seine Kollegin Silke Jaeschke mir die Startnummer auf die Brust. 383. Meine Eintrittskarte für den Radebeuler Mount-Everest -Treppen-Marathon.
Es geht los! Dieses Mal stehe ich selbst an der Startlinie. Da kommt mein Vorgänger angesprintet und übergibt den Staffelstab. Im Laufschritt lege ich die kurze Strecke bis zur Treppe zurück. Ging ja eigentlich ganz einfach. Nun trippelnd die Stufen hinunter, die auf einmal wahnsinnig schmal erscheinen. Auch für Teilnehmer der sogenannten Touri-Staffel bleibt da keine Zeit, die herrliche Aussicht auf Radebeul und die Weinberge zu genießen. Vor mir einer jener Läufer, der wohl schon länger auf der Treppe unterwegs ist. Gegenverkehr abchecken, überholen, wenigstens etwas Tempo machen. Die Treppe erscheint mir wahnsinnig lang, bis nach den 397 Stufen schließlich ein Ende in Sicht ist. Doch die Halbzeit ist noch nicht erreicht. Joggend geht es ein Stück in Richtung Lößnitzgrund, bevor der Aufstieg bevorsteht.
Stufe für Stufe rufe ich mir die Anweisungen von Thomas Döring ins Gedächtnis. Kräfte einteilen. Erst langsam, dann schneller. So gehe ich schnaufend treppauf. Nun komme auch ich bei dem Mädchen vorbei, das hier seit Jahren Blumen an die Läufer verteilt, die 100 Runden geschafft haben. Die Perspektive wechselt. Die Luft geht mir langsam aus. Ich werde langsamer und kann mir beim besten Willen nicht mehr vorstellen, wie man diese Strecke 100 Mal am Stück zurücklegen kann. Ich komme mir allmählich vor wie ein keuchender Bummelzug, trotzdem gehen die Füße wie automatisch weiter, steigen auf in Richtung Zielpunkt. Die Schüler des Luisenstift feuern mich an, sodass ich nach der letzten Stufe doch noch einmal Gas gebe – jedenfalls kommt es mir so vor – bevor der Staffelstab endlich den Besitzer wechselt. Völlig aus der Puste komme ich nach gut zehn Minuten oben an. Der durchschnittliche Luisenstiftler braucht dafür 7,5 Minuten. Geschafft, aber stolz drehe ich noch eine Runde auf dem Rasen neben dem Zelt, dann reicht mit jemand einen Tee, den ich in einem Zug austrinke.
Die „Erkundung meines individuellen Grenzbereichs“, wie Thomas Döring die Teilnahme am Treppenlauf nennt, ist abgeschlossen. Etwa zehn Minuten später kommt auch die erste Frau im Alleingang ins Ziel. Kristina Tille aus Attendorn ist in 17:30:22 Stunden 100 Mal die Treppe auf- und abgelaufen. Meine Hochachtung!