Eltern im Ausnahmezustand

Von Tobias Hanraths
Es ist kein Schlaf, es ist ein halb waches Dämmern. Es ist kein Essen, mehr ein schnelles Futtern zwischen zwei Schreiattacken. Und es ist kein Sitzen, es ist ein gebeugtes Hocken auf der Krabbeldecke. Das erste Babyjahr ist für Eltern schön, aufregend – und stressig. Ein Ausnahmezustand eben. Kann so viel Anstrengung gesund und gut für die Beziehung sein?
Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, sagt Ulrike von Haldenwang vom Deutschen Hebammenverband. „Mit einer schönen Geburt und einem gut vorbereiteten Wochenbett ist es in der Regel so, dass die Freude überwiegt.“ Gleichzeitig passiere es aber oft, dass gerade Erstlingseltern die Anstrengung unterschätzen und sich überfordern. Es kann dann ernsthafte Probleme geben, auch psychischer Art, bis hin zur Depression.
„Es gibt da diese weitverbreitete Vorstellung, dass man quasi in Glück gebadet ist“, sagt von Haldenwang. Jede Mutter und jeder Vater wissen, dass an diesem Klischee viel Wahres dran ist. „Aber diese enorme emotionale Tiefe der Gefühle kann eben auch belasten“, warnt die Hebamme. „Von den praktischen und körperlichen Anstrengungen ganz abgesehen.“
Wie die Geburt verläuft, lässt sich in der Regel kaum planen oder vorhersagen. Das Wochenbett vorbereiten kann dagegen jeder. Und dabei kommt es nicht zuerst auf ein fertig eingerichtetes Kinderzimmer oder einen Kühlschrank voller fertiger Mahlzeiten an, so von Haldenwang. „Ganz wichtig ist die Gesprächskultur in der Beziehung.“ Denn gerade die ersten Wochen mit Kind seien oft ein Härtetest dafür, wie ein Paar kommuniziert. „Kann man gute Absprachen treffen, gut verhandeln, offen über seine Bedürfnisse sprechen?“, so von Haldenwang. Ob das unter Druck wirklich klappt, stellt sich zwar erst im Ernstfall heraus. Die Grundlagen einer guten Gesprächskultur lassen sich aber schon vorher etablieren.
Auf ihrer Basis lassen sich zahlreiche praktische Hindernisse gut aus dem Weg räumen. Zum Beispiel der Schlafmangel: „Es ist natürlich so, dass man im ersten Jahr mit Kind weniger und auch schlechter schläft, weil man angespannter ist“, sagt die Hebamme. Tatsächlich vertrügen das manche Menschen deutlich besser als andere – oft wisse man das schon über sich. „Da sollte man also am besten vorher aushandeln, wie man damit umgeht.“
Auch die Mutter muss mal schlafen
Übrigens ist es längst nicht immer so, dass die Mutter diejenige ist, die wenig Schlaf besser aushält, auch wenn sich entsprechende Legenden hartnäckig halten und zu einer entsprechend ungerechten Aufteilung führen. „Eine Studie aus den USA zeigt, dass vor allem Mütter in den ersten zwei Lebensjahren der Kinder bis zu sechs Monate an Schlaf verlieren, während die Väter selig weiterschlummern“, erzählt der Schlafforscher Hans-Günter Weeß.
Das ist nicht nur nervig für die Frauen. Es hat auch negative Konsequenzen für ihre Gesundheit. „Für Mütter kann die Geburt des Kindes auch ein Start in eine lebenslange Karriere mit Schlafstörungen sein“, sagt Weeß. „Sie gewöhnen sich einen sehr hellhörigen und oberflächlichen Schlaf an, und werden den nie wieder los.“ Um das zu verhindern, rät Weeß dringend zu einer Aufteilung der Nachtschichten. Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, dass jeder seine Hälfte übernimmt. Wichtiger sei eher, dass jeder ab und zu mal eine ungestörte Nacht hat. Langfristschäden seien so relativ unwahrscheinlich. „Grundsätzlich kann der Mensch eine gewisse Zeit mit Schlafmangel auskommen. Ab wann sich daraus eine Gesundheitsgefährdung entwickelt, können wir nicht genau sagen. Es sind aber eher viele Monate oder sogar Jahre dazu nötig“, sagt der Schlafforscher.
Ansonsten rät Ulrike von Haldenwang neuen Eltern vor allem, sich nicht zu übernehmen. Das gilt gerade für Mütter und vor allem im ersten Jahr. „Was oft unterschätzt wird, ist, wie viel Kraft Schwangerschaft und Geburt Frauen kosten“, sagt sie. „Eine Geburt ist zwar keine Krankheit. Aber es braucht meistens ein Jahr, bis Mütter wieder auf ihrem Energielevel von vorher angekommen sind.“
Umso mehr gelte das, wenn kurz nach der Geburt noch körperliche Probleme hinzukommen – ein Kaiserschnitt etwa, oder ein Dammschnitt, der heilen muss. „Das kann wirklich langwierig sein.“Gerade dann sei Regel Nummer eins: Lieber etwas mehr ausruhen, als alles perfekt machen zu wollen. Das betrifft zum Beispiel die täglichen Mahlzeiten für die Erwachsenen und die Geschwisterkinder des Babys. Eltern sollten sich hier vor allem eingestehen, dass sie nicht jeden Tag frisch kochen können oder müssen, sagt Ulrike von Haldenwang. Stressfreiheit sei in dem Fall wichtiger als gesunde Ernährung nach Lehrbuch. So sei es auch völlig okay, wenn man mal Tiefkühlpizza isst oder der Lieferdienst kommt. Alternativ könnte man Freunde und Verwandte bitten, selbst gekochtes Essen mitzubringen. „Da geht es vor allem darum, entspannt zu sein und nicht zu streng mit sich selbst.“
Doch wenn aus Paaren Eltern werden, ändert sich für sie meist noch viel mehr. Wo bleibt noch Platz für die Liebe? Sie können einiges tun, damit die Beziehung nicht an den neuen Herausforderungen zerbricht. Das geht schon gleich nach der Entbindung los. Paare sollten die ersten sechs bis acht Wochen nach der Geburt des Kindes gemeinsam nutzen, rät Helen Heinemann, Pädagogin und Leiterin des Instituts für Burnout-Prävention in Hamburg. In dieser Phase verarbeitet das Paar gemeinsam das emotionale Aufgewühltsein und Durcheinander. Beide – Mann und Frau – lassen es sich miteinander gut gehen, so wie während der Flitterwochen nach der Hochzeit. Das Ziel dabei: Das Paar konzentriert sich ganz auf die neue Situation zu dritt und findet sich gemeinsam neu in ihren Rollen als Mutter und Vater.
Lieber mittelmäßiger Sex als keiner
Wichtig sei es gerade in den ersten Monaten nach der Geburt des Babys, nicht davon auszugehen, dass schon alles von allein laufe. „Das tut es nämlich nicht“, so Burnout-Expertin Heinemann. Deshalb sollten Paare Aufgaben verteilen und dabei auch Dinge wie Termine vereinbaren. Zudem sollten sich Paare regelmäßig darüber austauschen, was jeden gerade unzufrieden macht, um dann zu überlegen, wie es sich lösen lässt. Etwa durch Aufgabentausch: Wenn einer nicht gerne kocht, kann er beispielsweise die Wäsche übernehmen.
Bei vielen Paaren liegt nach der Geburt eines Babys zudem das Liebesleben auf Eis. „Die Lust fällt nicht vom Himmel“, sagen die Münchner Paartherapeuten Birgitt Hölzel und Stefan Ruzas. Ihre Empfehlung: „Hauptsache, machen! Nicht auf den perfekten Moment warten, oder diesen ausgiebig vorplanen.“ Das klappe im konkreten Moment sowieso nicht. Die Experten raten lieber dazu, mittelmäßigem Sex zu haben als gar keinen. Dazu könnten Paare auch kleine Gelegenheiten nutzen, um wieder zusammen im Bett zu landen, etwa, wenn das Kind Mittagsschlaf hält. (dpa/rnw)