Warum Eltern Angst vor der Schule haben

Am Ende hätte sich René Jaeger die ganze Arbeit sparen können. Sachsens Landesregierung hat am Dienstagvormittag die geplanten Lockerungen der Corona-Schutzmaßnahmen beschlossen: Ab Montag kommender Woche wird also auch Jaegers Tochter wieder zur Schule gehen. Sein dreiseitiger Brief hat nichts daran geändert.
Am Nachmittag, als die Details der neuen Verordnung bekannt gegeben werden, wirkt René Jaeger müde. Bis in die halbe Nacht hat der Zittauer gesessen und seinen Brief per E-Mail an alle Landtagsabgeordneten, an den Ministerpräsidenten und den Kultusminister geschickt.
Am Vormittag hat er seiner Tochter dann bei den Aufgaben in Mathe und Deutsch geholfen. Selbstständig zu lernen, das kann von einer Erstklässlerin ja keiner verlangen. Seit acht Wochen versuchen er und vor allem seine Frau, mit der Sechsjährigen zu üben und ihr das Zuhausebleiben irgendwie erträglich zu machen. Mit jeder Woche ist das schwerer geworden, sagt René Jaeger. Aber so ist es dem 41-Jährigen immer noch lieber als das, was ab Montag bevorsteht.
Was viele Eltern jetzt als eine große Erleichterung empfinden, das ist für Familie Jaeger und viele andere auch eine große Sorge: Unterricht in der Schule unter Corona-Bedingungen. "Wie soll das denn gehen?", fragt René Jaeger auch im Namen anderer Eltern, die jetzt um die Gesundheit fürchten.
Corona-Fälle im Bekanntenkreis - auch ein Todesopfer
René Jäger, der als Bauleiter arbeitet, gehört mit Asthma und Bluthochdruck zur Risikogruppe. "Und wenn man wie wir Corona-Fälle im Bekanntenkreis hat - auch mit einem Todesopfer", sagt er, "dann sieht man das nicht mehr so locker". Der Mann, der gestorben ist, sei nur fünf Jahre älter gewesen als er, erzählt er, und er habe keine Vorerkrankungen gehabt.
René Jäger glaubt nicht, dass in den Schulen tatsächlich ein ausreichender Schutz vor einer Ansteckung ermöglicht werden kann. "Dafür reichen doch weder die Räume noch das Personal", ahnt der Zittauer. "Und wie soll das denn mit den Toiletten gehen?", fragt er. "Wie soll das funktionieren, mit 25 bis 30 Kindern in einer Klasse die Abstands- und Hygieneregeln einzuhalten?" Er bezweifelt, dass die Schulen das alles auf die Schnelle übers Wochenende vorbereiten können.
Deswegen hat er sich hingesetzt und seine Sorgen und Fragen in einen langen Brief an die Abgeordneten und die Minister geschrieben. Zwei Mütter haben in der Kürze der Zeit ebenfalls unterschrieben. Er hätte sicher noch viel mehr Unterschriften gesammelt, sagt René Jaeger. Aber für eine Unterschriftenaktion oder eine Petition besorgter Eltern sei ja gar keine Zeit gewesen. Erst am vergangenen Freitag hatte die Staatsregierung die geplante Wiederaufnahme des Schulbetriebs angekündigt. Und gleich am Montag sollte die neue Allgemeinverfügung beschlossen werden.
"Ja, es stimmt", schreibt Jaeger, "wir Eltern sind in den letzten Wochen mehr als doppelt belastet und am Ende unserer Kräfte. Aber wir bezweifeln ganz stark, dass der jetzt eingeschlagene Weg der Richtige ist."
Schnelle Lockerungen werfen auch Fragen auf
Die schnellen Lockerungen verwundern René Jaeger: "Sollen wir, die wir uns seit Wochen an alle Auflagen halten, nun auch hoffen, dass in den Klassen unserer Kinder alle Eltern so verantwortungsbewusst sind?", fragt er. "Die Regierung verbietet es uns und unseren Kindern, Freunde und Familie zu sehen, selbst im kleinen Kreise einen Kindergeburtstag zu feiern, aber verpflichtet uns andererseits, unsere Kinder wieder in die Schulen zu stecken - mit allen anderen zusammen."
René Jaeger versteht das nicht. Und noch etwas macht ihm in diesem Zusammenhang Sorgen: Mit der Öffnung der Grundschulen und Kitas werde nun all denen, die den Schutz-Maßnahmen ohnehin schon kritisch gegenüberstehen, suggeriert, dass doch alles gar nicht so schlimm sei.
Die Arbeit, die sich René Jaeger mit seinem Brief an die Abgeordneten und die Regierungsverantwortlichen gemacht hat, ist seit Dienstagvormittag hinfällig. Die Landesregierung hat den Schulstart für alle ab kommendem Montag beschlossen. "Da bleibt uns also nur noch zu hoffen, dass alle gesund bleiben", sagt der Familienvater.
Aber vielleicht ist das lange Schreiben doch nicht ganz umsonst. René Jaeger hat sich darin auch viele Gedanken gemacht, wie Schule in dieser Zeit auch anders und besser werden könnte: mit neuen Lernformen, Arbeit in kleinen Gruppen, praxisbezogenem Lernen fürs Leben statt stupider Wissensvermittlung oder lebendigem Unterricht draußen in der Natur. Nachdenkens- und überlegenswert allemal.