Von Jürgen Müller
Helmut Beeger, Erbe und Erneuerer eines Kaisitzer Vierseithofes, schreibt über seine Mutter Marianne. „Zerbrochene Zeit“ heißt sein Buch und berichtet über den Zusammenbruch ihrer Welt, als die Rote Armee sich im April 1945 der Stadt Meißen näherte, als das Haus am östlichen Stadtrand, das sie mit ihrer Schwester und vier Kriegskindern bewohnte, in den Mittelpunkt nächtlicher Kampfhandlungen rückt. Als die Versuche, sich und die ihren in Sicherheit zu bringen, in einem hilflosen Treck enden, der das Ende zwar herausschieben, aber nicht aufhalten kann.
Beeger bedient sich bei seiner Schilderung der Aufzeichnungen, die seine Mutter in den Tagen des Einmarsches der Roten Armee zunächst in einem Schulheft festhält. Daher ist der Text authentisch. In ihm spiegeln sich ihre Wut, Angst und Ratlosigkeit wieder angesichts einer Entwicklung, die sie erschüttert. Sie arrangiert sich mit dem Kriegsgegner, der nun als Sieger vor ihr steht und die ihm zugeflossene Macht nicht immer nach den Regeln des Völkerrechts gebraucht.
Zerbrochene Zeit, so der Titel, steht für das schreckliche Ende einer fanatischen Hingabe, aber auch für Hoffnung und Zuversicht, ohne die in den dunkler Nachkriegsjahren an ein Überleben nicht zu denken ist. „Nicht Wunden aufzureißen ist Ziel meines Büchleins, sondern es ist der Versuch, eine Zeit aufzuarbeiten, die offiziell gern mit Schweigen zugedeckt wird“, so der 71-jährige Autor.
Dem Leser macht er es zunächst nicht leicht. Vor allem die zahlreichen, endlosen, verschlungenen Schachtelsätze stören den Lesefluss. Es ist eine typisch deutsche Geschichte, die Beeger da erzählt, eine Geschichte von Führer und Verführung, der auch seine Mutter erlag. Sie bringt drei Kinder zur Welt, bekommt dafür das Mutterverdienstkreuz, auf das sie mächtig stolz ist. „Die kraftvoll inszenierten Aufmärsche der Wehrmacht anlässlich der zahlreichen Gedenktage, Trommelwirbel, Fahnenschmuck und Fackelscheinwaren der Stoff, aus dem sich ihre Begeisterung und ihre Gläubigkeit speiste, waren Kitt und Balsam zugleich für die ... verwundete Seele“, schreibt Beeger. Und weiter: „Ihr Blick verharrte bei seinen (Hitlers) Erfolgen, drang nicht in die Tiefe, verdrängte, was nicht ins Bild passte. Gewisse Grobheiten und Gemeinheiten seitens Uniformierter, derer sie auf der Straße ansichtig wurden wertete sie als Späne, die kurzzeitig fliegen, wenn der Hobel angesetzt wird, und im brutal betriebenen Boykott jüdischer Geschäfte sah sie nichts anderes als einen durch die Besitzverhältnisse und die offenkundige Verschwörung zwischen Bolschewismus und Weltjudentum erzwungenen Akt völkischer Notwehr.“
Selbst als die Sowjetarmee vor den Toren Meißens steht, will Marianne Beeger nicht wahrhaben, dass der Krieg verloren ist. Noch immer glaubt sie der Propaganda, hofft auf die Wende, dass der Feind doch noch zurückgeschlagen werden kann. Wartet mit der Flucht so lange, dass es fast zu spät ist, die Brücken gesperrt sind.
Und dann die Begegnung mit „den Russen“. „Sie ließen einfach nicht von uns ab, drei Mongolen, schwer bewaffnet. Wir waren ca. 15 junge Frauen. ... Die drei standen in der geöffneten Tür zum Korridor und beobachteten uns. Es war gespenstisch, unwirklich. Früher gehörten die Frauen den Siegern, hatten wir in der Schule gelernt, und nun das, mitten in Deutschland im 20. Jahrhundert. Und dann rissen sie sich von der Tür los, gingen durch unseren Kreis und setzten den Dreien die Pistole direkt an die Schläfe: „Du kommen mit.“ Ja, so war das. Bei Dunkelheit waren wir Freiwild, der Begierde der Sieger ausgesetzt.“
Die Familie Beeger hatte übrigens Glück. Alle überlebten den Krieg, Vater Fritz kehrte von der Front unversehrt zurück. Helmut Beegers Eltern übernahmen nach dem Krieg den Hof. Wegen der Zwangskollektivierung verließen die Beegers am 16. Februar 1953 bei Nacht und Nebel wieder den Hof, um sich der drohenden Verhaftung als Wirtschaftssaboteure zu entziehen. Nach der Wende forderten die Beegers den Hof zurück. Helmut Beeger ließ das Haupthaus aufbauen und die anderen Gebäude sanieren. Heute ist der ehemalige Vierseithof eine Wohnanlage mit 18 Mietwohnungen. Helmut Beeger selbst wohnt in Radebeul. Seine Mutter starb 1997 in Konstanz am Bodensee.
ISBN 978-3-86468-371-8