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Erpressungsvorwürfe im Stadtrat Meißen

Die erste Sitzung der Stadträte während der Corona-Krise lief aus dem Ruder.

Von Peter Anderson
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Obwohl räumlich weit voneinander entfernt, gerieten sich am Mittwochabend die Meißner Stadträte in die Haare.
Obwohl räumlich weit voneinander entfernt, gerieten sich am Mittwochabend die Meißner Stadträte in die Haare. ©  Claudia Hübschmann

Meißen. Martin Bahrmann findet auch am Tag nach der Stadtratssitzung vom Mittwochabend nur schwer zur Ruhe. Der Vorsitzende der Fraktion aus ULM, FDP, Freien Bürgern und CDU wird sehr deutlich. Die kleineren Fraktionen im Stadtrat hätten die Krisensituation ausgenutzt, um die mit zwölf Mitglieder zahlenmäßig stärkste Fraktion zu erpressen. Diese sei vollständig im Ratssaal erschienen, obwohl auch unter seinen Kollegen einige der Risikogruppe angehörten, so der Liberale. 

Aus seiner Sicht waren die Verhältnisse im Sitzungssaal akzeptabel. Das Rathaus hatte der SZ auf Nachfrage mitgeteilt, die Stühle seien so gestellt worden, dass der vorgeschriebene Mindestabstand von 1,5 Metern  eingehalten werde. Die zwei Standmikrofone im Saal wie auch auf das Rednerpult würden nach jedem Sprecher mit einem neuen Schutz versehen. Diejenigen, welche zur Ratssitzung nicht bereits einen eigenen Nasen-Mund-Schutz mitbringen, sollten einen Schutz von der Verwaltung erhalten. Von einer Verpflichtung zum Maskentragen werde zunächst abgesehen, und auf die Eigenverantwortung der Stadträte gesetzt.

Spaß am Rande: Selbst die Kamera von Meißen-TV trägt am Mittwochabend Mundschutz.
Spaß am Rande: Selbst die Kamera von Meißen-TV trägt am Mittwochabend Mundschutz. © Claudia Hübschmann

Trotz dieses Pakets an Vorsichtsmaßnahmen blieben Linken-Stadtrat Andreas Graff sowie Jürgen Hampf von der Fraktion Bürger für Meißen und SPD der Sitzung fern. Der Allgemeinarzt befindet sich nach den übereinstimmenden Aussagen verschiedener Quellen in Quarantäne. Linken-Urgestein Andreas Graff zählt unter anderem vom Alter her zur Risikogruppe.

Das Fehlen der beiden Kommunalpolitiker sei von den kleineren Fraktionen im Stadtrat instrumentalisiert worden, um seine Fraktion dazu zu drängen, auf drei Mandate zu verzichten, gibt Martin Bahrmann zu Protokoll. Diese Argumentation erscheine ihm vollkommen irrational. Wenn während der Elbe-Fluten 2002, 2006 oder 2013 Stadträte verhindert waren, wurde trotzdem mit den bestehende Mehrheitsverhältnissen getagt. "Sollen wir künftig immer Mandate aussetzen, wenn Stadträte im Urlaub sind", fragt der 33-Jährige.

Letztlich habe sich seine Fraktion nach langen internen und externen Diskussionen dem Druck der restlichen Räte gebeugt. Man habe dies aus Verantwortung für die Stadt und ihr Wohlergehen getan. Alternativ hätten die anderen Fraktionen mit ihrem Auszug aus dem Ratssaal gedroht. "Dann wären wichtige Beschlüsse zum Bau am Franziskaneum und der Questenbergschule sowie der Haushalt 2020 geplatzt", so Bahrmann. Der FDP-Politiker stellt am Donnerstag gleichzeitig klar, dass dieses Entgegenkommen eine absolute Ausnahme gewesen sei. Nochmals lasse sich seine Fraktion nicht derart vorführen.

Inhaltlich zeigt sich der Chef der Großfraktion mit den Beschlüssen, der aus seiner Sicht unnötig langen Sitzung, zufrieden. Wichtig sei für ihn gewesen, dass nicht pauschal beschlossen wurde, die sich ankündigende schwierige finanzielle Situation der Stadt pauschal durch einen Nachtragshaushalt zu lösen. Stattdessen würden nach Paragraf 77 der Sächsischen Gemeindeordnung verschiedene Wege geprüft, zu denen auch eine Haushaltssperre gehöre.

"Tiefpunkt der Meißner Kommunalpolitik"

Ganz anders sieht die Sicht von Linken-Fraktionschef Tilo Hellmann auf die Vorgänge vom Mittwochabend aus. Er verweist auf eine Absprache im vor dem Stadtrat per Video-Konferenz durchgeführten Ältestenrat. Dort sei diskutiert worden, dass trotz der Corona-Krise und ihrer Folgen, der sich in den bestehenden Mehrheitsverhältnissen ausdrückende Wählerwille, Bestand haben müsse. "Damit war auch Martin Bahrmann einverstanden", so Hellmann. Zur Stadtratssitzung sollte dann der aktuellen Situation entsprechend eines der bewährten Verfahren ausgewählt werden. Leider habe OB Olaf Raschke (parteilos) erst zur Sitzung selbst Rechenbeispiele vorlegen können, welche zum Nachteil der Großfraktion ausfielen, die vollzählig anwesend war. Er müsse sich jedoch nicht vorwerfen lassen, den ältesten Meißner Stadtrat Andreas Graff, welcher zudem gesundheitlich besonders gefährdet sei, gebeten zu haben, der Sitzung fern zu bleiben, so Hellmann.

Wirft der Großfraktion und ihrem Chef Martin Bahrmann Wortbrüchigkeit vor. Nach Aussage von Linksfraktionschef Tilo Hellmann war die veränderte Stimmgewichtung im Stadtrat zuvor abgesprochen worden.
Wirft der Großfraktion und ihrem Chef Martin Bahrmann Wortbrüchigkeit vor. Nach Aussage von Linksfraktionschef Tilo Hellmann war die veränderte Stimmgewichtung im Stadtrat zuvor abgesprochen worden. © Claudia Hübschmann

Ein zweites Mal ist Bahrmanns-Fraktion in den Augen des Linken-Politikers beim Beschluss über die Möglichkeit eines Nachtragshaushaltes wortbrüchig geworden. Anfang der Sitzung sei ein Kompromiss zustande gekommen, der vorsah, dass ein Nachtragshaushalt zu prüfen sei, selbst wenn er nicht zwingend gesetzlich vorgeschrieben wäre. Ein überraschendes Vorpreschen von OB Raschke habe diesen Vorschlag jedoch wieder vom Tisch gefegt. Mit ihrer Stimmenmehrheit habe die Großfraktion schließlich die Version des Rathauschefs durchgedrückt. "Für mich war diese Sitzung menschlich und inhaltlich ein Tiefpunkt der Meißner Kommunalpolitik", so Hellmann.

"Diese Argumentation spiegelt nur die Realität wider"

Kritik an den Umständen der Stadtratssitzung kommt vom Vorsitzenden der Stadtratsfraktion aus Bürgern für Meißen und SPD, Heiko Schulze.  Er weist darauf hin, dass die Mitarbeiter der Stadtverwaltung am Einlass keinen Mundschutz getragen hätten. Bauamtsleiter Dirk Herr habe ohne Mundschutz zu den Stadträten gesprochen. Die Unterschriften hätten mit einem einzigen Stift geleistet werden müssen. Beim Imbiss nach der Sitzung seien ganz schnell die Masken und Abstände verschwunden. 

"Wir haben hier eine Krise, die Gesundheit und Leben bedrohen", so der Bündnisgrüne. Es sei eine Verdrehung der Tatsachen, wenn so getan würde, als ob Jürgen Hampf und Andreas Graff die Sitzung geschwänzt hätten. Da zudem zwei Stadträte der AfD-Fraktion fehlten, hätte die Großfraktion alle Beschlüsse mit ihrer Mehrheit durchdrücken können. "Wir wären nur noch Makulatur gewesen. Da hätten wir gehen können", sagt Schulze. Diese Argumentation sei keine Erpressung, sondern spiegele die Realität wider. Den Stadträten von ULM, FDP, Freien Bürgern und FDP wäre ein politisches Gewicht zugekommen, das ihnen die Wähler ursprünglich nicht gegeben haben. 

Enttäuscht zeigt sich Schulze von der Haltung des Meißner Oberbürgermeisters Olaf Raschke. Dieser hätte sich intensiver und früher dem Problem verzerrter Stimmverhältnisse durch die Corona-Krise widmen müssen.

Probleme mit der Tagesordnung am Mittwochabend artikuliert AfD-Fraktionschef Thomas Kirste. Die sei sehr von Vorschlägen der Großfraktion bestimmt gewesen. Drei schon vor längerer Zeit gestellte Anträge aus den Reihen der AfD würden dagegen ignoriert. Es habe ein Geschmäckle, wenn die Großfraktion ausgerechnet bei diesen inhaltlichen Vorgaben den gesamten Stadtrat hätte dominieren können.  

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