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„Es geht ans Eingemachte“

Über 20 geistig behinderte Jugendliche beenden im Juni ihre Schulausbildung in Radebeul und Meißen. Ungewiss ist jedoch, wo sie im Herbst eine Lehrstelle bekommen. Die Behindertenwerkstätten im Landkreis können derzeit keine weiteren Azubis aufnehmen, da nötige Mittel vom sächsischen Landeswohlfahrtsverband (LWV) fehlen.

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Von Frank Roßmann

Wie viele andere Eltern auch hatte Silke Tittel in den vergangenen Wochen schon schlimme Befürchtungen. „Wir rechneten schon damit, dass unser Kind und damit auch ein Elternteil in die Arbeitslosigkeit müssten“, sagt sie. Ende Juni wird ihre geistig behinderte Tochter die Förderschule in Meißen beenden. Ob und wo die 18-jährige und 14 weitere Abgänger der Förderschule Meißen aber im Herbst eine Lehre aufnehmen kann, ist bisher noch ungewiss. Grund: Die einzige Behindertenwerkstatt in Meißen, an der die meisten Abgänger der Förderschule bisher unterkamen, platzt aus allen Nähten.

Keine freien Plätze in Meißen und Radebeul

Der Werkstatt-Träger, das Deutsche Rote Kreuz (DRK), beschäftigt hier bereits 170 Behinderte, obwohl die Einrichtung eigentlich nur für 150 Mitarbeiter ausgelegt ist. Die gleiche Situation in Radebeul: Im Sommer gehen acht Behinderte von der Förderschule ab. Doch die 96 Plätze der Behindertenwerkstatt in der Gartenstraße seien besetzt, sagt Lothar Erler, Geschäftsführer der Lebenshilfe Dresden, der Träger der Einrichtung.

Für zusätzliche Plätze in den Werkstätten kann der sächsische Landeswohlfahrtsverband (LWV), der als überörtlicher Träger der Sozialhilfe die Integration von Behinderten landesweit koordiniert und weitgehend finanziert, bis dato keine weiteren Gelder locker machen. Spätestens seit dem vergangenen Jahr befindet sich der LWV nämlich selbst in einer tiefen Finanzkrise. Für 2002 musste der Verband ein Defizit von 38 Millionen Euro ausweisen. Ursache für die finanzielle Misere: Der LWV musste entsprechend des stetig steigenden Bedarfs weiter in den Ausbau von Behinderteneinrichtungen investieren, ohne jedoch selber höhere Einnahmen verbuchen zu können. Den Hauptteil seiner Gelder nimmt der Verband nämlich von den Kommunen und kreisfreien Städten in Sachsen ein. Doch die verweigern seit Langem hartnäckig, ihre finanziellen Umlagen für den LWV zu erhöhen. Begründung: Die eigenen Haushalte wiesen auch so schon gehörige Löcher auf.

Im vergangenen November zog der LWV dann die Notbremse und verhängte den sogenannten Kapazitätserweiterungsstopp. Will heißen: Keine sächsische Behindertenwerkstatt kann derzeit zusätzliche Stellen einrichten. Und das, obwohl der Bedarf weiter steigt. „Noch bis 2011 kommen pro Jahr 500 Behinderte mehr auf den sächsischen Arbeitsmarkt“, zitiert Gerhard Rose, Sozialdezernent im Meißner Landratsamt, offizielle Prognosen. Er bemühe sich intensiv um Lösungen. Im Fall der 15 Förderschulabgänger in Meißen sei er inzwischen optimistisch. „Das Arbeitsamt hat Gelder zugesagt, mit denen das DRK die benötigten Lehrstellen schaffen kann. Dazu wird das Rote Kreuz neue Räume anmieten “, sagt Rose. Wo genau, stehe noch nicht fest.

„Damit scheint unsere diesjährige Zitterpartie erst einmal beendet“, sagt Andrea Kröpelin, Schulleiterin der Förderschule in Meißen. Für sie und die Lehrerschaft sei die Ungewissheit der vergangenen Monate belastend gewesen, weil die Zahl der Abgänger mit 15 weit über dem üblichen Durchschnitt von acht Absolventen pro Jahrgang liege. Auch Silke Tittel zeigt sich optimistisch. „Doch noch ist die Situation nicht völlig gerettet. Erst wenn es heißt: ‚Ihre Tochter beginnt ab Oktober dort und dort‘, bin ich beruhigt“, sagt sie.

Die Lebenshilfe hat indes für ihren Standort in Radebeul Erweiterungsanträge beim Arbeitsamt und der LWV gestellt. 24 Plätze sollen zusätzlich in einer leer stehenden Fabrik in Werkstatt-Nähe geschaffen werden. „Sowohl Arbeitsamt, als auch LWV müssen zustimmen. Der LWV stellt dabei die größere Hürde dar“, sagt Erler. Der LWV finanziere Erweiterungen nach wie vor nur in Ausnahmefällen.

Zur Entwarnung

weiterhin kein Anlass

Entwarnung kann weiterhin keiner der Beteiligten geben. „Auch wenn wir jetzt alle unterbringen: Das Problem ist damit nur um zwei Jahre verschoben“, gibt Dezernent Rose zu bedenken. Dann nämlich beenden die Lehrlinge ihre Ausbildung und müssen regulär in Werkstätten oder auf dem freien Arbeitsmarkt Anstellung finden. Bei der gegenwärtigen Platznot in den Werkstätten, müssen vermehrt Integrationsstellen auf dem ersten Arbeitsmarkt geschaffen werden, sagt Rose. Ein Einstieg dahingehend sei bereits gemacht. Zehn solcher Stellen stünden im Landkreis bis Jahresende zur Verfügung. Dennoch: „Schon im nächsten Jahr geht‘s hier ans Eingemachte. Dann nämlich beenden viele der jetzigen Werkstatt-Lehrlinge ihr zweites Lehrjahr und gehen auf Stellensuche“, sagt Rose.