Von Wolfgang Zimmermann
Über seinen Musikunterricht möchte der Radebeuler Jürgen Karthe eigentlich gar nicht sprechen. „Ich war nicht gut!“ – so sein sparsamer Kommentar zur längst verflossenen Schulzeit. Doch später fällt ihm dazu noch ein: „Mein Musiklehrer greift sich heute permanent an den Kopf, liest er was über mich und meine Musik in der Zeitung.“ Spricht’s und greift zu seinem Instrument, und das ist ein Bandoneon. Der Laie würde jetzt sicher sagen „Das is doch’n Schifferklavier!“
Der Fachmann aber unterscheidet genau. Jürgen Karthe ist diesbezüglich ein absoluter Fachmann. Was die Historie des Bandoneons und dessen untrennbare Verknüpfung mit dem Tango betrifft – darüber könnte er aus dem Handgelenk einen umfangreichen Vortrag halten. Das ist die theoretische Seite, die praktische ist sein Spiel. Innerhalb des „Sexteto Andorinha“ – der Band, die er 1994 schon gründete und heute noch leitet – vor allem aber bei Jürgen Karthes zahllosen Einsätzen als Solist. Und das ergibt dann ein Bild, wie aus einem Reiseprospekt entliehen; da sitzt einer auf einem Hocker, ist ganz in schwarz gekleidet, auf seinem rechten Oberschenkel ist ein Tuch ausgebreitet und darauf ruht ein Bandoneon. Wobei „ruht“ wohl das falscheste aller Worte ist, denn das Bandoneon ist alles andere als ruhig. Vielmehr jauchzt es, klagt, singt oder weint – es ist in der Lage, alle Freude und zugleich allen Schmerz dieser Welt in seiner Stimme zu vereinen. Karthe gehört zu den wenigen Bandoneonsolisten der Welt, die diesem ganz besonderen Instrument den ihm gebührenden ganz besonderen Platz einräumen. Spielt er es, dann verschmelzen Spieler und Instrument zu einer Einheit.
Jürgen Karthe ist gebürtiger Leipziger, wurde dort 1956 als Sohn eines Schmiedes geboren. Als er fünf war, zog die Familie in die Stahlwerkerstadt Riesa und Jürgen lernte „Facharbeiter für Nachrichtentechnik“. Weil ihm die Nationale Volksarmee ein Studium, eine Wohnung und eine Fahrschulausbildung versprach, meldete er sich für drei Jahre zum „Ehrendienst“. Als alle drei Versprechen einseitig gebrochen wurden, war Jürgen Karthe erst mal stinksauer, dann ging er los und kümmerte sich. Einziges positives Überbleibsel dieser Zeit war; er hatte sich autodidaktisch das Akkordeonspielen beigebracht. In Berlin bewarb er sich demzufolge an der Musikschule, wollte Gitarre und Akkordeon studieren, doch „Die haben mich gar nicht erst vorspielen lassen, weil ich keinerlei Empfehlungsschreiben hatte.“ Ergo bewarb er sich zum Studium an der Fachschule für Klubhausleiter in Meißen-Siebeneichen, wurde angenommen und gehörte zu den zehn Studenten, die 1988 wegen allzu kritischer Hinterfragerei ohne Abschluss von der Schule gejagt wurden. Nach der Wende verdiente er sich mit Straßenmusik ein paar Mark. Das reichte nicht weit, die Wohnung musste er bald aufgeben, er schnappte sich sein Moped – das einen Anhänger hatte – und ging damit auf Tour.
„Ich habe etwa ein halbes Jahr richtig auf der Straße gelebt – so wie ein Penner. Er trat als Solist bei allen möglichen Anlässen auf, spielte Kneipenmusik im Duo und wurde Mitglied des eigens für das 1. Radebeuler Karl-May-Fest gegründeten „Tante Droll Trios“. Jedenfalls verbiss sich Jürgen Karthe von nun an in das Bandoneon, was dazu führte, dass er sich 1995 rigoros von seinem letzten Akkordeon trennte und sich von da an nur noch dem Bandoneonspiel widmete.
„Ich war mit mir so unzufrieden – die Mystik des Tangos hat mich zwar begeistert, aber ich spürte auch, dass ich noch ganz am Anfang stehe.“ Er hatte sich etwa 10 000 D-Mark gespart. Die nahm er, fuhr nach Rotterdam und studierte dort das Bandoneonspiel. Vorbilder wie Astor Piazolla und andere im Kopf. Als das Geld alle war, musste er notgedrungen wieder zurück. Was sich als glücklicher Umstand herausstellte, denn die Dresdner „Balance-Film Produktion“ bot ihm eine Mitarbeit in einer Dokumentation zur Geschichte des Bandoneons an. Am authentischen Ort – in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires wurde gedreht – für Jürgen Karthe zugleich eine erste Begegnung mit der faszinierenden Atmosphäre dieser Stadt. So entstand der Film „Mythos B.“.
Heute hat Jürgen Karthe umfassend zu tun; ist ein gefragter Theatermusiker, eröffnet Vernissagen, gibt Solo- und Duokonzerte, auch im Ausland, und produziert CD mit seinem hinreißenden Bandoneon.
Konzert: Jürgen Karthe ist mit Fabian Klentzke am 9. August, 17 Uhr als „Tango Amoratado“ in der Hoflößnitz zu hören. Vorverkauf: 0351-839 83 33.