Von Jörg Stock
Hauptkommissar Hubrich soll ins Fernsehen. Er ist nicht scharf darauf. „Ich bin doch kein Schauspieler“, sagt er. Aber es muss wohl sein. Es ist schließlich sein Fall. Vor neun Monaten hatte der Messerstecher mit der Tarnweste drei Menschen böse verletzt, und noch immer gibt es keine heiße Spur zu ihm. Also packt Ralf Hubrich seine sieben Sachen und fährt nach München, um auf Deutschlands Flaggschiff der Öffentlichkeitsfahndung anzuheuern: „Aktenzeichen XY … ungelöst“.



Was war passiert? Ende August 1992 streift ein seltsamer Wandersmann durchs Erzgebirge: Kurze Hosen, Tarnfleckweste, Campingbeutel, hellblaue Flauschdecke, Berliner Schnauze. Zuerst wundern sich die Einwohner von Nassau und Reichenau über die Gestalt, dann ein Förster an der Talsperre Lehnmühle, dann Spaziergänger in Naundorf. Am 29. August, einem Sonnabend, wundert sich ein 64-jähriger Jagdhelfer im Obercarsdorfer Kohlbusch. Er spricht den Mann an, ein Wort gibt das andere, der Unbekannte zieht ein Messer und sticht auf den alten Herrn ein.
Mit knapper Not schleppt sich der Blutende die zwei Kilometer zurück nach Hause. Er wird in eine Spezialklinik für Lungenverletzte eingeliefert. Noch in der Nacht gibt es zwei weitere Opfer: Ein Vater und sein Sohn tragen schwere Stichverletzungen davon, als sie den Tarnwestenmann im Keller ihres Liebstädter Einfamilienhauses überraschen. Dort packt er gerade Konservendosen und Getränke ein. Als die Hausbewohner in festhalten wollen, zieht er die Klinge – Vater und Sohn müssen ins Krankenhaus.
Zwei Tage mit der Filmcrew
„Dann war Tamtam!“ So beschreibt Ralf Hubrich die folgenden Stunden. 120 Polizisten, Hunde, Hubschrauber suchen nach dem gefährlichen Stecher. Ein Funkspruch kommt: In einem Schuppen im nahen Niederfrauendorf liegt eine Leiche! Die Hand baumelt aus dem Fenster, heißt es. Hat der Unbekannte zugestochen? „Wir sind hingetigert, mit klopfendem Herzen“, erzählt Hubrich. Niemand hatte sich inzwischen an den Schuppen rangetraut. Als die Kripo eintrifft, stellt sich heraus: Die Hand ist ein Arbeitshandschuh. Ohne Leiche dran.
Am Montag bringen die Zeitungen das Phantombild des Messerstechers. Ralf Hubrich ist unzufrieden. Es ist ein Allerweltsgesicht. Und diese Tarnwesten tragen zurzeit viele. Es gibt zwar Hinweise. Mit denen lässt sich die Marschroute des Gesuchten rekonstruieren. Mehr aber auch nicht. Der Mann ist weg, und das bleibt er auch.
Monate später, fast ist schon wieder Sommer, da kommt der Anruf. Eine Redakteurin von „Aktenzeichen XY … ungelöst“ bietet Unterstützung im Messerstecherfall an. Die Fernsehfahnder wussten recht genau, worum es geht. Wahrscheinlich hatten sie von der Sache im Bundeskriminalblatt gelesen, sagt Ralf Hubrich. In diesem, eigentlich nur für den Dienstgebrauch bestimmten Druckwerk informieren sich die Verfolgungsbehörden der Republik untereinander über ihre offenen Fälle.
Die Sendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“ läuft seit 1967 beim ZDF. Es ist das weltweit erste Fernsehformat für die öffentliche Verbrechersuche. Typisch dafür sind kleine Filme, die dem Publikum die polizeilich ermittelten Fakten vorspielen. Für den Film über Hubrichs Messerstecher reist ein Kamerateam nach Pirna. Zwei Tage zieht Ralf Hubrich mit den Fernsehleuten umher. Das Team filmt die Originalschauplätze. Die Bilder dienen als Anhalt. Im späteren Film werden Orte und Akteure zwar ähnlich, aber nicht authentisch sein.
Mitte Mai 1993 fährt Ralf Hubrich nach München. Es ist seine erste Bekanntschaft mit der Bayernmetropole. Das Studio der ZDF-Tochter FSM liegt am Stadtrand. Hubrich sieht hohe Gebäude mit Logos namhafter Privatsender. Das ist die Medienallee von Unterföhring, Ballungszentrum der deutschen Fernseh- und Filmindustrie. Hubrich bezieht sein Hotelzimmer. Eine Frau von der Aufnahmeleitung kommt. Sie will wissen, was der Kommissar zur Sendung anzieht. Er zeigt ihr Jackett und Krawatte in Fliedertönen. Extra eingekauft? Wahrscheinlich nicht, meint Hubrich heute. Damals erschien man als Kriminalist noch in Schlips und Kragen zum Dienst. Da hatte er wohl einiges in dieser Art im Schrank.
Ablenkung beim Haxnbauern
Tags darauf beginnen die Probeaufnahmen. Ralf Hubrich ist nicht allein. Kommissare aus ganz Deutschland sind angereist und wollen ihre harten Nüsse vom Fernsehpublikum knacken lassen. Der Pirnaer Kommissar sieht erstmals ein Fernsehstudio, sieht die Massen an Menschen und Material, die aufgeboten werden. Keine Vorstellung hatte er davon gehabt, was an so einer Sendung alles dran hängt, sagt er. „Das war schon gewaltig.“
Auch den berühmten XY-Chefmoderator Eduard Zimmermann lernt er kennen. Sympathisch und gar nicht abgehoben findet er ihn. Abends geht’s zum Haxnbauern in die Stadt. In dem berühmten Alt-Münchner Gasthaus vergisst der Kommissar bei einer knusprig überm Buchenholz gegrillten Schweinshaxe das Lampenfieber.
Freitag, 14. Mai. Tag der Sendung. Wieder wird viel probiert, die Abläufe, die Texte. Seine Sätze sieht Ralf Hubrich zwar vor sich auf dem Monitor. Einprägen muss er sie sich trotzdem, denn nur ablesen geht nicht. Hubrich erfährt, er soll seinen Fall live präsentieren, während andere aufgezeichnet werden. „Das hat mir noch mal einen kleinen Stich gegeben“, sagt er.
20.15 Uhr. Fall 1. Hubrichs Fall. Er beschreibt die rätselhafte Story, kommentiert das Phantombild des Messerstechers, lässt dessen Marschweg einblenden, die gefundene Taschenlampe, die Tarnweste. Kein Verhaspeln, kein Stottern, alles klappt. Dann schnell ans Telefon, Hinweise aufnehmen. Zuerst ruft Hubrichs Bruder an, gratuliert zum gelungenen Auftritt. Fünf, sechs weitere Telefonate folgen. Die Masse geht in der Pirnaer Kripo-Zentrale ein. Insgesamt sind es wohl um die zweihundert.
Die Aktion bringt mehr als vierhundert neue Spuren, angefangen von verschwommenen Aussagen wie „So einen hab’ ich schon mal gesehen“ bis hin zu „Der wohnt dort und dort“. Sogar eine Esoterikerin meldet sich. Sie will das Versteck des Messerstechers durch Pendeln überm Deutschlandatlas festgestellt haben.
Die eine, die entscheidende Spur aber ist nicht dabei. Als alle Hinweise geprüft sind, bleibt nichts anderes übrig, als die Sache ad acta zu legen. Sehr ärgerlich, wenn so ein großer Aufwand umsonst ist, sagt Ralf Hubrich. „Aber ich hab’ nicht geweint.“ Muss er auch nicht. Für zehn Minuten hat er in Millionen deutschen, österreichischen und schweizer Wohnzimmern gefahndet. Kann man mehr verlangen?