Der Boom der Bikes

Eine Wiese, Büsche, Verkehrsgetöse - ganz normale Langeweile am Industriezonenrand von Kesselsdorf. Hamidreza Ameli findet die Aussicht spannend. In Gedanken sieht er hier seine neue Lagerhalle wachsen. Fast zweieinhalb Tausend Quadratmeter, Platz für haushohe Regale voller Fahrräder und für die gesamte Vormontage. Eine Investition von etwa drei Millionen Euro. Woher nimmt er das Vertrauen? Man muss Vertrauen haben, sagt er, sonst kann man nicht wachsen. Und gewachsen ist seine Firma, Fahrrad XXL Emporon, zuletzt so kräftig wie noch nie. "Nicht trotz Corona, sondern wegen Corona."
Rad fahren wird in Deutschland immer populärer. Nach Schätzungen des Zweirad-Industrie-Verbands gibt es aktuell rund 80 Millionen Drahtesel in der Republik. Und nicht nur die Zahl der Fahrräder nimmt zu. Auch ihr Preis. Im Schnitt wurden 2019 für ein neues Rad beinahe tausend Euro bezahlt, etwa 30 Prozent mehr als im Jahr davor. Entsprechend deutlich stiegen die Umsätze der Branche, laut Verband um 34 Prozent.

Hamidreza Amelis Firma Emporon gehört zu Deutschlands größten Zweiradhändlern. Das Unternehmen verfügt über vier Megafilialen in Dresden, Halle und Chemnitz und über ein zentrales Auslieferungslager in Kesselsdorf. Hier werden die vom Hersteller gelieferten Fahrräder fertig montiert, bevor man sie in die Emporon-Geschäfte schickt, oder direkt zum Kunden.
Erst 2017 hat Ameli dieses Lager mit Platz für rund 25.000 lieferbereite Bikes in Betrieb genommen. Doch schon wird es eng. Noch mehr Regale mussten aufgebaut, Teile der Montage nach Dresden verlegt werden. Dort will Ameli einen weiteren Lagerkomplex mit zweieinhalbtausend Quadratmetern kaufen. Doch selbst das ist nicht genug. Jetzt wird am Zentrallager Kesselsdorf angebaut. Die Anträge liegen schon beim Amt. Ameli hofft, dass die Erweiterung noch dieses Jahr steht.
Dass die Investition lohnt, bezweifelt Hamidreza Ameli keine Sekunde. Emporon ist zuletzt jedes Jahr gewachsen, sagt er, um etwa 30 Prozent. Im laufenden Geschäftsjahr rechnet er sogar mit 60 Prozent Zuwachs. Zwischen 53.000 und 55.000 Fahrräder wird er wohl verkaufen. Der Umsatz könnte 65 Millionen Euro betragen, schätzt er, wahrscheinlich sogar mehr.

Von Corona-Depression kann bei Emporon keine Rede sein. Zwar hatten die Filialen wie alle anderen Geschäfte schließen müssen. Doch der Online-Handel, schon vor dem Shutdown gut in Schwung, explodierte förmlich. Dreihundert Bestellungen am Tag waren keine Seltenheit. Die Spitze lag bei rund 500. Das Kesselsdorfer Lager arbeitete mit voller Kraft, sagt Chef Ameli. Zeitweise parkten die fertig zusammengeschraubten Räder alles zu. "Die Spedition hatte aufgegeben."
Emporon, das räumt Hamidreza Ameli nüchtern ein, hat von Corona profitiert, hat neue Kunden gewonnen. Seine These: Viele, die ihr Geld nicht in große Flugreisen investieren konnten, kauften sich stattdessen Fahrräder, gern teure E-Bikes, für den kleinen Urlaub im Sattel. Mancher mied aus Furcht vor Ansteckung öffentliche Verkehrsmittel und stieg aufs Rad um. Dazu kommt der immer drängendere Wunsch fit zu sein. Wer fit ist, die Lungen trainiert, der wird weniger schnell krank.
Hamidreza Ameli braucht nicht nur mehr Platz. Er braucht auch mehr Leute. Und auch da hilft Corona. Menschen ohne Job, aus der Gastronomie etwa oder der Eventwirtschaft, melden sich bei ihm, um in die Radbranche einzusteigen. Er schult handwerklich begabte Migranten um, beschäftigt außerdem 25 Lehrlinge. Dass Fachpersonal bei ihm anklopft, davon kann er zurzeit nur träumen. "Einen Fahrrad-Mechaniker zu finden, ist ein Ding der Unmöglichkeit."
DDR-Fahrräder: neue Liebe statt fiese Sprüche
Der Boom der Bikes erfasst nicht bloß den Großhandel. Auch kleine Firmen wie Fahrrad-Bäßler in Pirna spüren den Aufwind. Eben hat Seniorchef Hartmut Bäßler den Telefonhörer aufgelegt. Wieder wollte jemand ein E-Bike ausleihen. Aber das ist ihm zu heiß. Die Räder sind teuer und Schäden ärgerlich. Im Geschäft führt er E-Bikes schon viele Jahre. Früher wurden sie mal als „Versehrtenfahrzeug“ bezeichnet. Dass sie jetzt so im Kommen sind, kann er nachvollziehen. Die Leute sind bequem. Er lächelt still. „Erst nehmen sie die Rolltreppe, dann gehen sie ins Fitnessstudio.“
Statt mit 250 Mann wie bei Emporon arbeiten die Bäßlers in Familie. Vater und Sohn. Ihr Geschäft spielt sich im Erdgeschoss eines Bürgerhauses von 1912 ab, auf vielleicht sechzig Quadratmetern. Der Laden ist definitiv über hundert Jahre alt. Seit 1972 ist er in der Hand der Bäßlers. Heute ist es das einzige Nur-Fahrrad-Geschäft der Stadt, das aus DDR-Zeiten noch übrig ist. Und darauf ist der Chef stolz.
Hartmut Bäßler, gelernter Werkzeugmacher, arbeitet weniger für Menschen, die das Rad als Sportgerät begreifen. Seine Kunden sind eher "Alltagsradler", sagt er. Viele kommen aus Copitz und den umliegenden Dörfern und sind vor allem eins: treu. Den Anteil der Stammkundschaft schätzt der Chef auf etwa siebzig Prozent. Und nicht bei jedem geht es ums Fahrrad. Zur Not repariert er auch noch einen Leiterwagen.

Der Verkauf von Fahrrädern macht bei Hartmut Bäßler etwa die Hälfte des Geschäfts aus. Er kann keine Riesenauswahl bieten, kann aus dem Kauf kein Event machen. Aber er kann seine Kunden beraten und kann ordern, was sie aussuchen. Gerade hat er eine besondere Bestellung auf dem Tisch liegen, ein Rad der Holsteinischen Manufaktur Böttcher für fast viertausend Euro. "Sowas kommt vielleicht zweimal im Jahr vor."
Alltag ist bei Hartmut Bäßler das Reparieren. Und das findet er in Ordnung. Wegschmeißen ist nicht seins, sagt er. Kaufen Leute bei ihm ein neues Rad, nimmt er das alte in Zahlung, überholt es mit gebrauchten Teilen und verkauft es, garantiert verkehrssicher, zum kleinen Preis. Gern saniert er auch Fahrräder aus der DDR. Gerade klemmt ein blaues Herrenrad von Mifa aus den 1960ern im Montageständer. Wer Mifa fährt, ist Dresche wert? Von wegen. "Die Räder sind wieder sehr gefragt."
Auch Hartmut Bäßlers Laden hat Corona kaum geschadet. "Ich kann mich nicht beschweren", sagt er. Wie lange er selber noch in der Werkstatt steht, mit seinen 68 Jahren? Er hat nicht vor, demnächst Schluss zu machen. Ihm hat die Arbeit immer gefallen. Und solange sich daran nichts ändert, macht er einfach weiter.
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