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Familie floh im Lazarettzug vor der Roten Armee

Dass ihr Dialekt etwas anders war, bemerkte ich bei meiner Kollegin, aber Gedanken und Fragen zu dem, woher sie kam, wurden nie gestellt. Sie war für mich die Mutter eines ehemaligen Schulkameraden. Bei...

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Von Gudrun Kracht

Dass ihr Dialekt etwas anders war, bemerkte ich bei meiner Kollegin, aber Gedanken und Fragen zu dem, woher sie kam, wurden nie gestellt. Sie war für mich die Mutter eines ehemaligen Schulkameraden. Bei einer kurzen Begegnung erzählte sie mir die Ereignisse von vor 62 Jahren, als wären sie gestern gewesen. Damals hatte es sie nach Großenhain verschlagen.

Die Front rückte immer näher. Dagmar Kretzschmar lebte damals in Schemensee/Westpreußen, jetzt Skempe, in Richtung der Stadt Torn. Es wurde gemunkelt, dass es schlimm für die Bevölkerung ausgehen würde, wenn die Russen kämen. Dagmar war damals erst elf Jahre und für sie war Torn die schönste Stadt, die sie jemals gesehen hat. Sie vergleicht sie mit Dresden. Die verwitwete Mutter machte sich um die Zukunft der Familie, zu der noch weitere fünf Kinder gehörten, große Sorgen. „Anfangs waren wir noch neun Kinder, was zur damaligen Zeit nicht ungewöhnlich war“, erzählt Frau Kretzschmar, gebürtige Wolf. Sie war dann die Älteste im Haus, als ihre Mutter den Entschluss zur Flucht traf.

Winters in Großenhain-Urlaub

Ihre Nichte war in Großenhain mit einem Flieger verlobt. Die Nichte berichtete in ihren Briefen von einer angenehmen Umgebung und einer schönen Stadt. „Das brachte meine Mutter auf den rettenden Gedanken, eine Flucht im eigenen Land mit Hilfe dieser Nichte zu riskieren“, erinnert sich die Großenhainerin. Trotz der Kriegswirren konnte man nicht einfach sein Haus verkaufen oder verlassen, um gen Westen zu ziehen. Sonst hätten sich wohl bereits zu dieser Zeit schon viele Menschen zur Flucht bereit gemacht.

Dem Hexenkessel entkommen

So zeigte die Mutter dem Bürgermeister von Schemensee die Einladung zu einem Urlaub in Großenhain, ausgefertigt durch die Nichte. Die Einladung wurde akzeptiert und der Bürgermeister versprach, auf das Haus der Familie Wolf aufzupassen. Er erhielt dazu den Schlüssel, und Familie Wolf reiste mit einem Lazarettzug, mit dem Nötigsten, was sie mitnehmen konnte, 1943 in Richtung Großenhain. Frau Wolf wusste zu dieser Zeit längst, dass sie nur mit dem Urlaubstrick aus diesem bevorstehenden Hexenkessel entkommen konnte. Und dass sie wohl nicht zurückkehren würden, bevor nicht der Krieg zu Ende ist. Die Gaststätte Demmig auf der Meißner Straße war die erste Station der Familie. Es war Februar und in Großenhain lag Schnee. Das Polizeirevier mit Meldeamt befand sich im heutigen Ratskeller und ein Polizist sagte zum anderen: Stell dir vor, die kommen doch tatsächlich in der jetzigen Zeit nach Großenhain in Urlaub. Da die Familie mehrere Kinder hatte, zog sie bald in das „Deutsche Haus“ auf der Meißner Straße, heute eine Werbefirma.

Haus in Westpreußen verloren

Dagmar Kretschmar besuchte mit ihren Geschwistern die Pestalozzi-Schule. Nach dem Krieg suchte ihr Bruder Ewald durch das Rote Kreuz seine Familie, alle fanden sich wieder. Die Großenhainer Nichte verstarb 1944. Das Haus in Westpreußen hat die Familie, da sie bereits 1943 geflohen war, ohne Entschädigung von 4 000 Mark verloren.