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Fernbeziehung mit meiner Mutter

Die Tochter der berühmten Dompteurin Ursula Böttcher wuchs bei der Oma auf. In ihrer Kindheit vermisste sie nichts.

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© sächsische zeitung

Von Linda Barthel

Nein, der dicke Pelzmantel bleibt angezogen. Ja, im Zimmer ist es mollig warm, aber das ist egal. Jeder soll ihn sehen, schließlich hat kein anderer in der Klasse ein solches Schmuckstück. Es sichert bewundernde Blicke. Ein bisschen neidisch sind die Mitschüler auch.

Ursula Böttcher und der legendäre Todeskuss mit einem ihrer Eisbären. Die Dressur machte sie zu einer weltweit gefeierten Dompteurin.
Ursula Böttcher und der legendäre Todeskuss mit einem ihrer Eisbären. Die Dressur machte sie zu einer weltweit gefeierten Dompteurin. © apn
Dieses Heft erschien in Amerika, als die Zirkustruppe durch das Land reiste. Florida gefiel Ursula Böttcher am meisten, weil es dort warm war.
Dieses Heft erschien in Amerika, als die Zirkustruppe durch das Land reiste. Florida gefiel Ursula Böttcher am meisten, weil es dort warm war. © sächsische zeitung

Am Ende muss die kleine Angelika den pelzigen Hingucker mit der großen Kapuze dann doch ausziehen. Der Mathelehrer hat darauf bestanden. Mit ihm kann sie sich’s nicht verscherzen, da muss der Stolz auf den neuen Mantel hinten anstehen. Angelikas Mutter hat ihn von einer Reise mitgebracht. Er war ein Geschenk.

Ein Geschenk, mit dem die heute 59-Jährige ebenso schöne Erinnerungen verbindet wie mit ihrer mittlerweile verstorbenen Mutter. Die war eine Berühmtheit. Ihre weltweit einmalige Eisbärendressur mit dem legendären Todeskuss machte Ursula Böttcher zur bekanntesten Dompteurin der DDR – und zu einer Frau, die ihr Kind nicht selbst großziehen konnte. „Sie wollte mich nach der Geburt mit auf Reisen nehmen, aber der Arzt hat ihr davon abgeraten“, erinnert sich Angelika Tscherney. „So hat man mir es zumindest erzählt. Vielleicht war sie auch überfordert, aber ich will nicht schlecht über sie reden.“ Weil Ursula Böttcher mit der Zirkustruppe von Stadt zu Stadt und in ferne Länder reiste, wuchs ihre Tochter bei der Oma in der Neustadt auf. Die Mutter sah sie nur wenige Tage im Jahr. „Mein Vater war auch beim Zirkus. Als sich meine Eltern 1967 scheiden ließen, ist der Kontakt zu ihm abgebrochen.“

Ihre Kindheit sei glücklich gewesen, sagt Angelika Tscherney. Auch wenn Mutter und Vater nur selten da waren. „Meine Oma hat mich so sehr geliebt, die hätte mich sowieso nicht mehr hergegeben.“ Mit ihr reiste die Dresdnerin den Eltern manchmal hinterher. Vor allem an der Ostsee waren sie gemeinsam unterwegs, schliefen in den Zirkus-Wohnwagen und schauten sich die abendlichen Vorstellungen an. Erinnerungen daran habe sie heute kaum, dafür sei zu viel Zeit vergangen.

Etwas anderes hat die Dresdnerin dagegen nie vergessen. „Früher haben viele zu mir gesagt: Deine Mutti kümmert sich ja überhaupt nicht um dich. Den Leuten habe ich aber was erzählt.“ Sie habe nie das Gefühl gehabt, im Stich gelassen worden zu sein, habe ihre Mutter auch nie vermisst. „Ich hatte auch nie den Wunsch, dass sie nicht berühmt wäre. Ich habe ihr den Erfolg gegönnt.“ Außerdem sei sie sehr stolz auf ihre Mutter gewesen, erzählte jedem, der es hören wollte, von der weltbekannten Dompteurin. Noch heute ist das so.

Eine Schattenseite gab es allerdings. Eine richtige Mutter-Tochter-Bindung konnten Angelika Tscherney und Ursula Böttcher nie aufbauen. „Ich habe sie zwar immer Mutti genannt, aber so eine Bindung hatten wir nicht. Wir lebten in einer Fernbeziehung.“ Vor allem, als die Dompteurin mit ihrer Eisbären-Dressur in den 70ern in Amerika auftrat, konnten sich die beiden nur noch selten sehen. Dafür gab es mehr Anrufe und Briefe. „Meine Mutti hat mich immer ermahnt, weil ich schreibfaul war.“

Als die Großmutter 1971 starb, war Angelika Tscherney 15 Jahre alt. „Meine Oma habe ich damals wirklich sehr vermisst.“ Nachdem sie kurze Zeit bei ihrem Onkel lebte, begann die Dresdnerin eine Lehre zur Agrartechnikerin. Dann wechselte sie in den Obstbau und arbeitete bis 1993 in der Erdbeerernte. Heute wohnt sie mit ihrem Mann in einer kleinen Wohnung in Laubegast. Die beiden leben von Hartz IV und Nebenjobs. Trotz ihres Erfolgs hinterließ Ursula Böttcher kein großes Erbe. „Das Geld ging an den Zirkus und bei mir hat es mit der Arbeit irgendwie nie richtig klappen wollen“, sagt Angelika Tscherney. Eigentlich wollte sie wie ihre Mutter zum Zirkus, doch ihre Schulnoten reichten nicht für die Artistenschule. „In Mathe hatte ich Probleme“ Wenn ihre Mutter zu Besuch kam, erkundigte sie sich stets nach der Schule. „Da war sie schon strenger als meine Oma.“ Mit Geschenken machte Ursula Böttcher das wieder wett. „Sie hat mir mal ein paar ganz tolle Filzstifte mitgebracht.“

Erst mit 74 Jahren kam ihre Mutter zurück nach Dresden. Eigentlich hatte Ursula Böttcher geplant, sich in Spanien niederzulassen und dort auf der Bühne mit ihren Eisbären alt zu werden. Die wurden ihr jedoch aus Tierschutzgründen weggenommen. „Das hat sie nie verwunden“, sagt Angelika Tscherney. Zurück in Dresden musste sich ihre Mutter an ein neues Leben gewöhnen. Sie hatte kaum noch Bekannte in der Stadt. „Dafür haben wir auf einmal wie Mutter und Tochter gelebt. Streit gab es auch mal.“ Die plötzliche Nähe überforderte keine von beiden. Dafür vermisste Ursula Böttcher die Bühne. Das „normale“ Leben erfüllte sie nicht.

Dennoch genossen Mutter und Tochter neun Jahre lang ihre neu gewonnene Zweisamkeit – bis Ursula Böttcher 2010 recht unerwartet starb. Angelika Tscherney erfüllte ihr den Wunsch einer Seebestattung. „Ich glaube, dass meine Mutter an einem gebrochenen Herzen gestorben ist. Sie hat es nie verkraftet, dass ihr die Eisbären weggenommen wurden.“