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„Feuerwerker! Munitiooon!“

Die Dippser Heide ist noch immer ein „eiserner Wald“. Gerade, als der Reporter kommt, gibt es erneut brisante Funde.

Von Jörg Stock
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Wieder ein Stück Heide sauber: Thomas Zowalla vom Kampfmittelbeseitigungsdienst, hier mit einem Karabinerrest, übernimmt die Wochenausbeute.
Wieder ein Stück Heide sauber: Thomas Zowalla vom Kampfmittelbeseitigungsdienst, hier mit einem Karabinerrest, übernimmt die Wochenausbeute. © Karl-Ludwig Oberthür

Im Wald zu sein, an der frischen Luft – für Lars Müller gibt es nichts Schöneres. Er hat seinen dreißigsten Geburtstag in diesem Wald verbracht. Jetzt ist er fünfunddreißig, und noch immer ist er hier. Er wird auch hier sein, wenn er vierzig wird. Das scheint ihm ziemlich sicher. Die Arbeit hört nicht auf, sagt er. Und schon wieder ruft sie ihn, von seitwärts, aus dem Unterholz: „Feuerwerker! Munitiooon!“

Seit Herbst 2013 wird die Dippoldiswalder Heide von Kriegsschrott gesäubert. Die Mission, die binnen weniger Monate erledigt sein sollte, dauert nun fast sechs Jahre. Der Wald hat sich als gigantische Lagerstatt von Kampfmitteln aller Art entpuppt. Die Relikte stammen vorwiegend vom Finale des Zweiten Weltkriegs, als deutsche Einheiten hier ihren Ballast abwarfen. Außerdem zerschellten zwei B-17 der US Air Force mit voller Bombenlast über den Wipfeln. Nach Kriegsende kam sowjetische Munition hinzu. Dresdner Garnisonstruppen übten bis 1989 in dieser Gegend.

Lars Müller, Feuerwerker bei der Heinrich Hirdes Kampfmittelräumung aus Teltow, Räumstellenleiter in der Dippser Heide, stapft zwischen die Fichten, wo seine Leute inmitten eines mit rotweißen Stangen abgesteckten Quadrats warten. Als die Sonde zu knurren begann, haben sie seitwärts des Epizentrums sachte den Spaten eingestochen, den Grasfilz zurückgeklappt und mit der Hand getastet, was hier magnetisch ist. Oftmals sind es Nägel, Reste von Forstzäunen und Jagdkanzeln, Kabelstücke, vergessene Werkzeuge. Sogar ein Dildo hat der Räumtrupp mal gefunden. Das Sexspielzeug war einer Granate gar nicht mal unähnlich. Und was ist es diesmal?

Müller kniet nieder, besieht den Fund, dann zieht er ein bauchiges, rostpockiges Etwas mit Flügelschwanz ans Licht. Es ist eine deutsche Mörsergranate, Kaliber acht Zentimeter, dreieinhalb Kilo schwer. Wehrmachtssoldaten haben solche Projektile hinter die Deckungen ihrer Gegner geschleudert, um sie mit den Splittern hinterrücks zu töten. Diese Granate hier wurde aber nicht abgeschossen, diagnostiziert der Fachmann. Das Zündhütchen am Schwanzende ist intakt. Auch eine weitere Granate, die er gleich darauf aus der Erde hebt, ist transportsicher. Müller trägt beide Sprengkörper zur Schneise, um sie in den Kisten mit der Wochenausbeute zu verstauen.

Sondengänger Olaf Wähner betrachtet seinen Fund abgeklärt. Die Gefahr im Straßenverkehr hält er für größer, weil sie überraschend auftaucht. Aber hier ist man immer auf der Hut, sagt er, „hier rechnest du damit.“ Waldbesucher tun das weniger. Es kommt vor, dass sie sich beim Blaubeerensammeln oder Pilzesuchen bis an die Räumstelle heranpirschen, obwohl das die Warnschilder verbieten. Dann muss Wähner pausieren mit seinem Spürgerät, bis der Besuch sich wieder entfernt hat. Was soll man machen, sagt er. „Wir können die Leute ja nicht aus dem Wald prügeln.“

Nicht nur Waldesfrüchte oder die Neugier locken Menschen an. Manche haben ebenfalls Metalldetektoren dabei. Sie graben illegalerweise nach Militärdevotionalien, nach Orden, Helmen, Koppelschlössern. Aber sowas gibt’s hier nicht, sagt Lars Müller. Stattdessen stoßen die Schatzjäger auf Granaten. Die Räumtrupps finden sie dann abgelegt auf Baumstümpfen, wo sie jeder Unbedarfte einstecken könnte. Die Zwei-Zentimeter-Flakgeschosse zum Beispiel haben ideales Hosentaschenformat. Ihr simpler Zündmechanismus macht sie kreuzgefährlich. Manche enthalten sogar Phosphor, der an der Luft von selbst zu brennen anfängt. „Dann wird es richtig bissig“, sagt der Feuerwerker.

Frisch ausgegraben: Feuerwerker Lars Müller mit zwei Mörsergranaten.
Frisch ausgegraben: Feuerwerker Lars Müller mit zwei Mörsergranaten. © undefined
Bunte Mischung: eine rostige Pistole und der Kopf einer Stielhandgranate.
Bunte Mischung: eine rostige Pistole und der Kopf einer Stielhandgranate. © undefined
Kaum noch gefährlich, trotzdem beräumt: zerfetzte Kartuschhülsen und eine lederne Patronentasche der Wehrmacht.
Kaum noch gefährlich, trotzdem beräumt: zerfetzte Kartuschhülsen und eine lederne Patronentasche der Wehrmacht. © undefined
Sie scannen jeden Quadratzentimeter Waldboden: Sondierer Olaf Wähner (l.) und Räumarbeiter Donald Müller.
Sie scannen jeden Quadratzentimeter Waldboden: Sondierer Olaf Wähner (l.) und Räumarbeiter Donald Müller. © undefined

Lars Müller kennt jedes Projektil, das die Heide preisgibt, aus dem Effeff. Allerdings nur so, wie es damals aus der Fabrik kam. Was er nicht weiß, ist, wie sich die untauglichen Sprengversuche nach Kriegsende und die Jahrzehnte im Waldboden auf Sicherungen und Sprengstoffe ausgewirkt haben. Es ist bekannt, dass Sprengstoff mit der Zeit stoßempfindlicher werden kann. Zudem sind die Schutzkappen an den Geschossspitzen verrottet. Die Sicherungsvorrichtungen liegen bloß. Jeden Freitag, sagt Müller, ist er heilfroh, wenn seine Leute gesund ins Wochenende gehen.

Bisher haben die Suchteams sagenhafte 109 Tonnen Munition aus dem Heideboden geholt. Darunter waren allein 47 000 Stück der besagten Flak-Geschosse, aber auch 23 Fliegerbomben aus den abgestürzten US-Flugzeugen. Fünf Tonnen Munition waren so gefährlich, dass man sie an Ort und Stelle sprengen musste.

Wie lange dauert es noch, bis der „Eiserne Wald“ keiner mehr ist? Hauptkommissar Jürgen Scherf vom Polizeiverwaltungsamt hat darauf eine simple Antwort: „So lange, bis wir nichts mehr finden.“ Die Zeitspanne festlegen kann er nicht. Hatte man bisher gedacht, dass einige Waldstücke als unkritisch gelten können, hat sich der Plan nun geändert, sagt Scherf. Nunmehr soll der komplette Wald, also jeder Quadratzentimeter, untersucht werden.

Dass die Munitionsseuche keinerlei System hat, zeigt das Auftauchen der beiden Mörsergranaten. „Sowas finden wir überall“, sagt Lars Müller. Nicht mal die Hälfte der Heide wurde bisher abgegrast. Und mit den schlimmsten Ecken, so meint der Feuerwerker, ist man noch gar nicht durch. Die vierzig Geburtstagskerzen kann er also getrost zurechtlegen.

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