Florenas langer Abschied

Von Luise Anter und Ulrich Wolf
Die Zukunft liegt hinter einem Baustoffwerk. Auf einem Steckrübenacker und ein paar brach liegenden Wiesen. Ein zerschnittener Maschendrahtzaun macht den Weg frei auf jene 54 Hektar, die Leipzigs Stadtplaner als Gewerbefläche Seehausen II in ihren Karten skizziert haben. Die ersten Vermessungspfähle, rot und blau markiert, sind bereits in die Erde gerammt. In der Ferne rauscht der Verkehr über die Bundesstraße 184 und noch weiter dahinter, am Horizont, ragt der Podelwitzer Kirchturm in den wolkenverhangenen Himmel.
Dort also liegt die Zukunft für jene Mitarbeiter des Kosmetikkonzerns Beiersdorf, die bis 2022 noch im alten Florena-Werk im 70 Kilometer entfernten Waldheim produzieren. 220 Millionen Euro will das Unternehmen, das mehrheitlich der Tchibo-Gründer-Familie Herz gehört, im Nordosten von Leipzig investieren. 28 Hektar hat es sich in Seehausen II gesichert. Ein Werk für Deodorants soll entstehen. Ein Werk, das nicht dahin passt, wo jetzt noch die Tradition beheimatet ist.

An der Zufahrt der Fabrik am Stadtrand von Waldheim wehen Fahnen: Sachsen, EU und Beiersdorf. Die Autos auf dem Firmenparkplatz haben nahezu alle Döbelner und Freiberger Kennzeichen. Im Giebel des wuchtigen Hauptgebäudes prangt das runde Logo von Florena. Platz für Neubauten gibt es nicht. Zur einen Seite hin setzt die mäandernde Zschopau ein Stoppzeichen, zur anderen der 236 Meter hohe Eichberg. Darum ist hier bald Schluss. Möglichst viele der derzeit 250 Mitarbeiter sollen ein Stellenangebot für das neue Werk in Leipzig bekommen. Die, die annehmen, werden umziehen müssen. Oder pendeln: 50 Minuten mit dem Auto, zweieinhalb Stunden mit Zug und Bus.
Für viele ist Waldheim ohne Florena undenkbar. „Das geht nicht“, sagt eine ältere Dame, die gerade aus der Volksbank kommt. „Das geht gar nicht.“ Das wäre wie ein Ei ohne Eigelb.
Wer diese Symbiose zwischen Produkt und Stadt verstehen will, der muss 40 Stufen aus Rochlitzer Porphyr erklimmen. Dann steht man im Dachgeschoss des Stadtmuseums, im kulturellen Herzen Waldheims. Museumspädagogin Patricia Spruck wartet vor den Schautafeln zur Geschichte des Zahnseife- und Zahnpasta-Fabrikanten A. H. A. Bergmann. „Die Bergmanns gab es schon 1852“, sagt die 45-Jährige, „Und die Bergmanns waren es, die Florena 1920 als Patent angemeldet haben, als Talkum-Puder.“

Spruck spricht fast euphorisch über die Leistungen dieser Industriellenfamilie. Meist macht sie das vor Grundschülern sowie Fünft- und Sechstklässlern. „Ich lasse sie dann an der Vergangenheit schnuppern“, sagt sie. An herausziehbaren Geruchkapseln etwa, die Düfte offenbaren wie „Polar“ für den Mann oder „Schwarze Seide“ für die Frau. Doch nichts habe Wirtschaft und Stadt so stark miteinander verbunden wie Florena. „Das kennt man sonst nur von Zeiss und Jena“, sagt Struck.
Seit 1950 gibt es Florena als Creme, hergestellt erst vom VEB Rosodont, ab 1981 vom VEB Kosmetikkombinat Berlin. Produziert wurde in einem Gebäude am Niedermarkt im Waldheimer Zentrum. An diese Zeit erinnert nur noch ein Messingschild mit der Aufschrift „Florena-Passage“. Die Gewerbeflächen dort stehen leer. Irgendwie passt das zu dem, was Museumspädagogin Spruck feststellt: Die Generation, die Waldheim über Florena definiert, für die in der blauweißen Dose die „Creme ihrer Jugend“ steckt, die sterbe langsam aus.

Nach der Wende hatten zunächst drei ehemalige Betriebsleiter die Florena Cosmetics GmbH von der Treuhand gekauft. Von der Jahrtausendwende an fehlte ihnen das Kapital, um weiter zu wachsen. 2002 übernahm Beiersdorf den Standort. „Florena konnten die nicht einfach so verschwinden lassen. Dafür war die Produktserie einfach zu stark verankert im kollektiven Gedächtnis Ostdeutschlands.“
Albrecht Hänel frühstückte gerade, als er am 26. Februar dieses Jahres durch die Zeitungslektüre vom Beiersdorf-Rückzug erfuhr. Der 63-Jährige ist nicht nur der Stellvertreter des Bürgermeisters, Stadtrat seit 2004 und CDU-Mitglied. Er ist vor allem Vorsitzender des Vereins Kultur- und Heimatfreunde für Waldheim und Umgebung, in dem sich zehn Interessengruppen zusammengetan haben: von den Denkmalpflegern über die Modellbauer bis hin zum Volkschor. Dieser Mann, der „schon ewig“ Brauchtum und Heimat pflegt, ist verärgert, dass Beiersdorf sich nicht für einen Standort in der Nähe entschieden hat. „Wir haben Gewerbegebiete in Leisnig, in Döbeln, in Berbersdorf. Dann geht es doch wieder in den Speckgürtel eines Ballungszentrums.“
Waldheim chancenlos gegen Leipzig
Dessen Wirtschaftsbürgermeister heißt Uwe Albrecht. Er ist der Mann, der Beiersdorf nach Seehausen geholt hat. „Wir wussten, dass wir das können.“ Leipzig habe die Fläche erschlossen und bereits ab 2014 beworben. „Nicht viele Städte bieten Grundstücke, die zum Beispiel schon alle Voraussetzungen für die Abwasseranlage haben“, sagt Albrecht. Als Beiersdorf sein Ja zu Leipzig verkündete, sei das „ein sehr, sehr gutes Gefühl“ gewesen. Die Werksschließung in Waldheim sei ihm aber nicht egal. „Leipzig profitiert doch nicht von einem schwächeren Umfeld“, sagt Albrecht.
Bis zur endgültigen Erschließung des neuen Beiersdorf-Geländes müssen noch neun Millionen Euro investiert werden. Bund und Land finanzieren davon 5,7 Millionen, den Rest bringt Leipzig selbst auf. Zudem hat Beiersdorf für den Neubau eigens eine Förderung beim Freistaat Sachsen beantragt. Die Produktion werde nicht einfach nur verlagert, in Leipzig würden schließlich andere Produkte hergestellt als in Waldheim, heißt es. Über den Antrag hat das sächsische Wirtschaftsministerium noch nicht entschieden.

Erst am Donnerstag kündigte Beiersdorf an, die noch laufende Produktion in Waldheim wegen der Coronakrise überwiegend auf Desinfektionsmittel umstellen zu wollen. Doch spätestens nach der Werksschließung wird der Rückzug des Konzerns an der Zschopau finanziell zu spüren sein. Den Rückgang der Gewerbesteuereinnahmen beziffert Bürgermeister Steffen Ernst auf zehn Prozent. Das seien etwa 500.000 Euro, staatliche Ausgleichszahlungen eingerechnet. Dem FDP-Mann ist es am Telefon hörbar unangenehm, über das drohende Loch in der Gemeindekasse zu sprechen. Aber er hält es „nicht für in Stein gemeißelt“, dass die Schließung des alten Florena-Werks den Einzelhandel arg treffen wird. Er könnte es wissen: Nur ein paar Schritte vom Rathaus entfernt betreibt er mit seiner Frau ein kleines Café.
Es heißt: Ernst's Eis Café & Konditorei. Drinnen sitzt Ekkehart Stark. Der frühere Florena-Werbechef hält die Aussagen seines Bürgermeisters „für eine Milchmädchenrechnung“. Nicht nur gingen die Gewerbesteuern zurück, auch der kommunale Wasser- und Abwasserverband verliere seinen mit Abstand größten Kunden, sagt er. Stark verweist auf Wäschereien, auf Handwerker, auf Reinigungsfirmen, die alle von der Beiersdorf-Fabrik profitiert hätten. Auch um das Hotel Goldener Löwe, das ganz überwiegend Vertreter oder Monteure für Florena beherbergt habe, müsse man sich sorgen. „Stimmt“, sollte später der Mann an der Rezeption sagen, „das Aus trifft uns wirklich hart. Möglich, dass wir dicht machen müssen.“

Für Stark waren die Jahre von 1992 bis 2002 die schönsten. Mithilfe der Werbebotschafterin Franziska von Almsick habe man sogar im Westen Fuß gefasst. „Unser Ziel war es, eine nationale Marke zu werden.“ Doch Stark ist überzeugt: Beiersdorf habe Florena „ganz langsam an die Wand fahren“ wollen. So funktioniere Kapitalismus nun mal, Mitbewerber würden verdrängt. „2005 bin ich dann raus. Als Frührentner. Danach war das für mich gegessen.“ 2016, als erstmals Schließungsgerüchte kursierten und Stellenabbau und Lohnkürzungen folgten, da habe der zuständige Beiersdorf-Chef gesagt, dass man sich schwer tue mit Florena. Das Werk aber wolle man erhalten. Dort läuft Florena kaum noch vom Band, stattdessen sind es Cremes der Marken Nivea und Eucerin. Die Waldheiner Kreation indes wird noch im polnischen Poznan und in Hamburg produziert.
Spruck, Hänel und Ernst scheinen sich mit dem langsamen Aus ihrer Heimatmarke zu arrangieren. Auch Stark: „Ich glaube, sie wird verschwinden, sie wird ja auch nicht mehr gepflegt“, sagt der ehemalige Werbeleiter. Mit Ostalgie komme man nicht weit. „Davon halte ich nichts, das ist rückwärtsgewandt und verklärt die Vergangenheit.“
Die Gegenwart scheint ihm rechtzugeben. Bei Rossmann am Obermarkt ist Florena nur noch versteckt zu entdecken. „In den letzten Jahren ist es immer weniger geworden“, sagt eine Mitarbeiterin. Beim Kaufland ist es gar nicht mehr gelistet. Sogar im Museums-Schaukasten zur Waldheimer Gefängnisgeschichte ist das Ende der Florena-Ära sichtbar: Unter dem Hinweisschild „Erstausstattung der JVA-Insassen 2019“ finden sich die Zahnpasta der Billigmarke Rot-Weiß und die Rasiercreme von Elina-Med.
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