Freie Wähler ohne (Corona-) Verstand?

Thomas Knack, Bürgermeister vom Markersdorf, hat Verwandte in Mulhouse. Und hört, was derzeit los ist in der Region Grand Est, die neben Paris in Frankreich am schlimmsten vom Corona-Virus betroffen ist. "So eine Situation will ich nicht haben", sagt Knack. Mit dem Brief, den der Landesverband an Ministerpräsident Michael Kretschmer geschrieben habt, kann er deshalb gar nichts anfangen.

In dem Schreiben fordern die Freien Wähler Sachsen "das Ende der Kontaktsperre, die sofortige Öffnung aller Schulen und Kindereinrichtungen, Freibäder, Geschäfte sowie gastronomischen Einrichtungen und die sofortige Normalisierung des Lebens im Freistaat Sachsen." Dem Brief ist zu entnehmen, dass sie die Corona-Schutzmaßnahmen für Panikmache halten: "Die Sachsen werden nach Überwindung dieser künstlich erzeugten Panik wieder zu Fach- und Sachverstand umkehren und die Regierung erhält dann ein Zeugnis."
Land und Kreis: Freie Wähler sind nicht gleich Freie Wähler
Auch Roland Maiwald, Vorsitzender der Freien Wähler im Kreis Görlitz, distanziert sich. "Das war mit uns nicht abgesprochen", sagt er. "Ich kann dem Schreiben auch inhaltlich nichts abgewinnen." Unterschrieben ist es von Steffen Große, Landesvorstand der Freien Wähler Sachsen, seinem Stellvertreter Mario Stein und Heike Oehlert vom Kreisverband Leipzig. Mit ihnen sind die Freien Wähler im Landkreis Görlitz nicht verbunden, erklärt Maiwald. "Es gibt die Freien Wähler Sachsen, die sich vor einigen Jahren als Partei gegründet haben, um zu den Landtagswahlen antreten zu können." Vorigen September kamen sie auf 3,4 Prozent. Die Freien Wähler in den hiesigen Kommunen im Kreis Görlitz sind dagegen als Verein organisiert.
Auch inhaltlich gehen bei den Freien Wählern im Landesverband und denen auf Görlitzer Kreisebene die Meinungen - zumindest beim Thema Lockdown - weit auseinander. "Ich bin kein Mediziner und würde mir deshalb nicht anmaßen, Forderungen in dieser Form zu stellen", sagt Roland Maiwald.

Covid-19 nicht gefährlicher als Influenza?
So schreiben die Freien Wähler Sachsen: "Wie aus den Medien, Statistiken des RKI und anderen Quellen zu entnehmen ist, ist Covid-19 nicht gefährlicher als Influenza und viele andere Krankheiten der Welt, auf die nicht derart reagiert wurde und wird". Weiter fragen sie Kretschmer: "Wollen Sie bei künftigen vergleichbaren Viren, mit denen der Mensch Hunderttausendfach seit Tausenden Jahren lebt, wieder Sachsen auf de facto Null fahren?" In Sachsen sei die Covid-19-Welle überwunden.
"Gerade dieses absolute 'Corona ist vorbei' - das ist falsch", sagt Thomas Knack. "Warum haben wir denn vergleichsweise wenige Fälle hier? Ich bin überzeugt, weil wir uns gut an die Schutzmaßnahmen gehalten haben." Die Belastung durch die Einschränkungen will er nicht in Abrede stellen, gerade psychisch sei es für viele sicher keine leichte Situation.
"Insgesamt aber finde ich, dass die Regierung bislang recht gute Entscheidungen getroffen hat." Roland Maiwald äußert sich ähnlich: "Natürlich sind die Einschränkungen nicht gerade begeisternd", sagt er. "Ich bin auch dafür, dass sie immer wieder auf Verhältnismäßigkeit geprüft werden müssen. Aber ich denke nicht, dass die Regierung andere Absichten verfolgt."
Gegen Verschwörungstheorien
Damit spielt er auf Theorien an, die man vermehrt in den sozialen Netzwerken findet: Zum Beispiel, dass die Corona-Pandemie nur ein Vorwand sei, dahinter vielleicht ein großer Feldversuch stecke, wie weit Freiheitsbeschränkungen möglich sind. Bundesweite Umfragen ergeben nach wie vor ein anderes Bild.
Laut der aktuellen, wöchentlichen YouGov-Umfrage bewerten 72 Prozent der Befragten den Umgang der Regierung mit der Corona-Krise als gut bis sehr gut. Einen Stimmungsumschwung, wie ihn AfD-Bundessprecher Tino Chrupalla sehen will - "Mit ihrem überheblichen Eingreifen in die Bürgerrechte lässt Angela Merkel die Stimmung kippen" - bestätigen die Zahlen nicht.
Auch abseits von Verschwörungstheorien gibt es durchaus berechtigte Diskussionen zu den Corona-Schutzmaßnahmen und der Frage, wie es weitergehen soll, auch kritische Stimmen. Zum Beispiel zur rechtlichen Grundlage von Freiheitseinschränkungen oder den unterschiedlichen Regelungen in den Bundesländern. Auf der anderen Seite steht die Sorge, durch zu schnelle Lockerungen die Erfolge bei der Corona-Eindämmung zu verspielen, wie der Charité-Virologe Christian Drosten diese Woche gewarnt hat.
"Wir können ein Kreuz schlagen, dass wir wenige Fälle haben"
"Da geht eine Pandemie um die Welt", sagt Yvonne Reich, Sprecherin der Bündnisfraktion im Görlitzer Stadtrat, zu der die Bürger für Görlitz, die Grünen, Motor Görlitz und SPD gehören. "Und die ganze Welt sucht einen Weg, wie man damit am besten umgeht. Und der Landesverband der Freien Wähler will es jetzt wissen?" Auch sie kann dem Schreiben wenig abgewinnen.
"Wir können ein Kreuz schlagen und froh sein, dass unsere Region vergleichsweise wenig betroffen ist. Und wer will einschätzen, woran das liegt?" Womöglich, vermutet auch sie, ja an den Maßnahmen, die getroffen wurden. Auf der anderen Seite könne man auch in der Region sehen, wie schnell so ein Hotspot entstehen kann - zum Beispiel am Pflegeheim Abendfrieden in Niesky. "Ich finde deshalb einen langsamen Ausstieg richtig und nicht solche Holzhammer-Forderungen."
Die wirtschaftliche Angst könne sie nachvollziehen. "Die haben wir gerade alle." Yvonne Reich ist Opernsängerin am Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz/Zittau. Wo die Spielzeit 19/20 jetzt abgesagt wurde. "Ich bin jetzt in Kurzarbeit." Die Zeit daheim nutzt sie zum Maskennähen. "Ich brauche was, um Kopf und Hände zu beschäftigen. Für Kultur und Künstler ist die jetzige Situation der Tod", so Yvonne Reich. "Und so geht es gerade Menschen in vielen Bereichen. Aber ich finde, die Gesundheit geht vor."