Für Pastor Pietz ändert sich fast alles

Mit dem ersten Advent am kommenden Sonntag beginnt das neue Kirchenjahr. In vielen evangelischen Gemeinden ist es ein Neuanfang, werden die doch soeben gewählten Gemeindekirchenräte in ihr Amt eingeführt. Doch in der Innenstadtgemeinde steht der Tag zugleich im Zeichen des Abschiedes von Pfarrer Hans-Wilhelm Pietz, der in den Ruhestand geht. Dieser Sonntag ist eine Zäsur besonderer Art für die Gemeinde, aber auch für Görlitz.
Der 63-jährige Pfarrer Pietz hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass „nicht alles Volk zu uns gehört, aber die Botschaft an das ganze Volk gerichtet ist“. So sprach er gegenüber der SZ, als er im Juli 2012 Pfarrer in der Innenstadtgemeinde wurde. Da lag bereits ein beachtlicher Weg in der Görlitzer Landeskirche und später in der fusionierten Kirche mit Berlin-Brandenburg hinter ihm: als Akademie- und Bildungspfarrer, als Regionalbischof und Beauftragter für Spiritualität. Fast wäre er 2004 sogar Bischof der neuen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz geworden, 2010 musste er unter dem Druck Cottbuser Kreise das Amt des Regionalbischofs in Görlitz aufgeben.
Mit dem Plüsch-Esel in Kindergärten
Für Pietz schien das auch wie eine Befreiung aus Zwängen schwieriger Entscheidungen zu sein. Als Pfarrer der Innenstadt schnappte er sich als Erstes einen grauen Esel aus Plüsch und ging in Kindergärten, um den Kleinsten die Traditionen des Christentums näherzubringen. Pietz buk mit Jugendlichen in der Konfirmationszeit Brote bei Bäcker Tschirch und machte sich nichts aus der etwas albern wirkenden Schutzhaube. Und in diesem Jahr fuhr er mit jungen Leuten nach Taizé, um zu beten und gemeinsam zu leben – und die Nächte in Sechs-Bett-Zimmern zu verbringen sowie die Mahlzeiten mit einem Löffel einzunehmen.
Pietz erzählt davon mit einem Schmunzeln im Gesicht, das davon erzählt, so kann das Leben sein: so reich an Eindrücken, so stark an Erlebnissen, so tief berührend an Empfindungen. Wer ihn nur als Pfarrer oder Regionalbischof erlebte, der sah nur die offizielle Seite des Mannes, dessen Lebensgeschichte schon zuvor manch tiefen Einschnitt kannte. Dass er 1956 in Berlin-Weißensee geboren wurde, verdankte er seinem Vater Reinhold.
Der überstand im Zweiten Weltkrieg Stalingrad. Hans-Wilhelms Schwester Hanna Kasparick, selbst eine ausgewiesene Kirchenmusikerin und Theologin, berichtete der Hamburger Zeitung „Die Zeit“, wie er im letzten Transport entkam, „bevor sich der russische Kessel schloss, mit Lungensteckschuss, einem Auge, steifem Bein“. Nach dem Theologiestudium ging er in die Ostzone, weil das Land nicht gottlos werden sollte. Erst war Vater Pietz Pfarrer, dann leitete er die Ostberliner Predigerschule Paulinum, später die Kirchenkanzlei der EKU in Berlin. „Mein Vater“, so berichtete Hanna Kasparick, „hatte einen Grundwiderstand gegen Aufmärsche und Ideologisierung. Über alles stellte er die eigene Gewissensentscheidung.“
Kurz vor Weihnachten starb sein Vater
So war er noch maßgeblich beteiligt an der Einführung des Wehrersatzdienstes, der Bausoldaten, in der DDR, wo es einen Zivildienst wie in den alten Bundesländern nie gab. Doch bereits 1976 starb Reinhold Pietz, kurz vor Weihnachten. Da war Hans-Wilhelm Pietz erst 20 Jahre alt, hatte auf der Schule zu spüren bekommen, was es heißt, nicht in der Pionierorganisation und in der FDJ zu sein, durfte nicht studieren, obwohl mancher Lehrer glaubte, an ihm sei „ein Ardenne verloren gegangen“ und er selbst durchaus in der Germanistik ein lohnendes Studiengebiet gesehen hätte.
Stattdessen sammelt er Erfahrungen als Heizungshelfer und Hotelgehilfe in der Nähe des Bahnhofs Berlin-Friedrichstadt, wo viele Gäste von „Clärchens Ballhaus“ mitten in der Nacht ziemlich angeheitert eintrafen. „Wir hatten da immer was zu lachen“, sagt Pietz. Doch er geht nicht ins Hotelwesen, sondern nimmt ein Studium an kirchlichen Hochschulen in Berlin und Naumburg auf, bleibt im Osten Deutschlands. „Unsere Mutter wäre gern mit uns in den Westen gegangen“, erinnert sich Hans-Wilhelm Pietz. „Aber ich und meine Schwester vor allem sahen unseren Auftrag, unseren Platz hier im Osten.“ Trotz aller Widerstände staatlicherseits wollten sie hier etwas gestalten.
Er bleibt nach seinem Studium noch einige Zeit als Assistent an der Naumburger Hochschule. Es folgen erste Erfahrungen als Pfarrer in Sachsen-Anhalt und in Forst, wo er 1990 in der friedlichen Revolution den Runden Tisch leitet. Schließlich wird er Dozent am Evangelischen Predigerseminar in Wittenberg – zehn Jahre später wird seine Schwester die Einrichtung leiten – und Prediger an der Wittenberger Schlosskirche, also Nachfolger Luthers und Melanchthons.
In Berlin geboren, nun an der Neiße daheim
Von dort wechselt er schließlich nach Görlitz. Schon vor Jahren sagte er über seine Lebensstationen: „Ich bin in Berlin geboren, in Brandenburg aufgewachsen, an der Saale als Assistent tätig gewesen, an der Elbe als Dozent gelehrt, aber an der Neiße nun daheim.“
Das spüren die Menschen, wenn er ihnen selten zu hörende Bibeltexte auslegt oder Lieder auswählt, die schon lange nicht mehr gesungen wurden. Wenn er an historische Ereignisse erinnert, wie die Weihe der Peterskirche, für die es sogar einen sonst vergessenen Gedenkstein an der Westfassade der Peterskirche gibt.

Nicht zuletzt hat er in dem Buch „Görlitzer Bilderbibel“ zusammen mit Christian Wesenberg gezeigt, wie oft christliche Motive in der Stadt zu finden sind, welcher Schatz uns im Alltag umfängt, woher das kommt und wer sich auch heute noch drum kümmert. Diese Geschichten auszubreiten, Menschen damit anzurühren und ihnen damit Hilfe im Leben zu geben, das steht für Hans-Wilhelm Pietz immer im Mittelpunkt. Und das nicht nur in Kirchenräumen.
Die Lichterkette gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit auf der Berliner Straße im Frühjahr 2016, die von ihm mitinitiiert wurde, sieht er als ein solches Beispiel, das Mira-Lobe-Gedächtnis, das Schuljubiläum des Augustums in der Dreifaltigkeitskirche, aber auch das Eintreten der Kirchen für das seinerzeit von Schließung bedrohte Siemens-Werk. Wie vor Weihnachten 2017 Lieder vor dem Werkstor gesungen wurden, das traf viele mitten ins Herz.
Er empfiehlt genaues Zuhören
Für Pietz sind das alles Zeichen einer Solidar- und Verantwortungsgemeinschaft, auch wenn deren Zahl und Stärke in den vergangenen Jahrzehnten zurückgegangen ist. Eine bedenkliche Entwicklung nennt Pietz das und empfiehlt genaues Zuhören auf Lebensgeschichten mit ihren Erfahrungen von Unerfülltheit, von Zurückgestoßenheit und Unverstehen, vom Ärger an Ideologien, die ungefragt hingenommen werden. Zuhören – das A und O der Arbeit von Seelsorgern.
Und so ist Pietz, der das Engagement seiner hauptamtlichen Mitarbeiter – und ehrenamtlichen Kirchenmitgliedern nicht genug zu loben vergisst, froh, dass mit dem Pfarrerehepaar Paul die Nachfolger bereitstehen. Die genauso wie Pietz sich um vier Kirchgebäude, Kitas, um Chöre und Mitarbeiter kümmern müssen.
Pietz also geht in den Ruhestand und kündigt zugleich an, weiterhin jeden Morgen um sieben am Schreibtisch zu sitzen. Um zwei Bücher herauszugeben: Über seinen leiblichen und seinen wissenschaftlichen Vater. Und Pastor, so sagt er wieder mit diesem Schmunzeln, bleibt man sowieso ein Leben lang.
Der Abendmahlsgottesdienst zur Verabschiedung von Pfarrer Hans-Wilhelm Pietz beginnt am Sonntag, 14 Uhr, in der Dreifaltigkeitskirche.