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Ist die Vertraute des AfD-Chefs rechtsradikal?

Offiziell distanziert sich die AfD von der rechtsextremistischen Identitären Bewegung. Eine Vertraute von Tino Chrupalla hat weniger Berührungsängste.

Von Tobias Wolf & Maximilian Helm
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Tino Chrupalla beschäftigt in seinem Bundestagsbüro eine wahrscheinlich rechtsradikale Wissenschaftlerin.
Tino Chrupalla beschäftigt in seinem Bundestagsbüro eine wahrscheinlich rechtsradikale Wissenschaftlerin. © Nikolai Schmidt

Frauen in Männerberufe zu drängen, das sei Missbrauch, sagt sie. Identitäre Frauen sollten lieber für Familie, Tradition und Heimat einstehen. Die Frau sei eben eine konservative Natur. All das erzählt „Lore Waldvogel“ im Podcast „Leuchtfeuer“ der vom Verfassungsschutz als rechtsextremistisch eingestuften Identitären Bewegung Berlin-Brandenburg. Für ihre Thesen erhält die Frau im Netz Zustimmung. „Warum tritt Lore Waldvogel nicht öfter in Erscheinung?“, fragt eine Hörerin. Eine Antwort gibt es nicht.

Lore Waldvogel existiert wohl nicht. Der Name ist vermutlich nur das Pseudonym der Wissenschaftlerin Dr. Claudia R., die zu einer engen Vertrauten von AfD-Bundeschef Tino Chrupalla aufgestiegen ist und seit 2017 Chrupallas Bundestagsbüro leitet. Jenes sächsischen Malermeisters, der bei der Bundestagswahl 2017 dem heutigen sächsischen CDU-Ministerpräsidenten Michael Kretschmer dessen Görlitzer Wahlkreis abtrotzte.

R.s mutmaßliche Kontakte zur Identitären Bewegung (IB) könnten problematisch werden. Die IB steht auf der Unvereinbarkeitsliste der AfD. Sie selbst bestreitet die Kontakte vehement.

Wer ist Claudia R.? Wie hat sie sich radikalisiert? Welchen Einfluss übt sie auf den AfD-Chef aus? Eine Rekonstruktion.

Spätestens seit diesem Tag spielte Chrupalla in der großen Politik mit: Bei der Bundestagswahl am 24. September 2017 jagte er dem damaligen sächsischen CDU-Generalsekretär Michael Kretschmer das Bundestagsmandat ab.
Spätestens seit diesem Tag spielte Chrupalla in der großen Politik mit: Bei der Bundestagswahl am 24. September 2017 jagte er dem damaligen sächsischen CDU-Generalsekretär Michael Kretschmer das Bundestagsmandat ab. © Pawel Sosnowski

Görlitz und die Mystik

Görlitz. Ein Bürgerhaus aus der Gründerzeit. Die braune Fassade ist in die Jahre gekommen. Hier und da bröckelt der Putz. Drinnen wurde renoviert. Glänzende Messinggriffe, Holztüren mit Fenstern, gedrechselte Geländer. Für 65 Quadratmeter, zweieinhalb Zimmer mit Blick auf den Wilhelmsplatz, sind 400 Euro im Monat fällig.

Der Name der Büroleiterin steht auf der Klingel der Wohnung im oberen Stock, vor dem Namen ein Doktortitel. Niemand öffnet. In der Nachbarschaft heißt es, Claudia R. komme nur alle paar Wochen, seit sie in Berlin arbeitet. Sie sei eine freundliche Frau, lebe seit 2016 hier und nutze seltsamerweise Pseudonyme: „Irgendwas mit Vogel.“

Einer Zeugin zufolge sollen sich Claudia R. und Chrupalla 2016 in Görlitz kennengelernt haben. Weder R. noch Chrupalla wollen sich dazu äußern. Stattdessen antwortet die Anwaltskanzlei Höcker, die auch den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan gegen den TV-Entertainer Jan Böhmermann vertrat. Ihr Mandant teile mit, dass es an Mitarbeitern von Abgeordneten grundsätzlich kein öffentliches Informationsinteresse geben dürfte.

Der Wilhelmsplatz in Görlitz.
Der Wilhelmsplatz in Görlitz. © Nikolai Schmidt

Für Dr. Claudia R. antwortet die gleiche Kanzlei. Jede Verbindung zur Identitären Bewegung wird bestritten. Ein unmissverständliches Dementi, dass es sich bei R. nicht um Lore Waldvogel handelt, gibt es allerdings nicht.

Während ihrer Zeit in Görlitz war R. im Vorstand der Jacob-Böhme-Gesellschaft tätig. Der Verein pflegt das Erbe des Görlitzer Mystikers, der Natur und Gott gleichsetzte. Ex-Mitstreiter erinnern sich an Claudia R. und an ihren schnellen Aufstieg in den Vereinsvorstand. Ab April 2017 sollte sie Kontakt zur Görlitzer Bürgerschaft aufbauen. Ein Ex-Vorstandskollege sagt, sie sei offen und ehrgeizig auf die Leute zugegangen, obwohl sie erst zugezogen war.

Ein Tweet vom 20. September 2019. Auch die Scheinidentität Lore Waldvogel interessierte sich für den Görlitzer Mystiker Jacob Böhme.
Ein Tweet vom 20. September 2019. Auch die Scheinidentität Lore Waldvogel interessierte sich für den Görlitzer Mystiker Jacob Böhme. © Screenshot: SZ

Claudia R. sprach mit vielen Lokalpolitikern und Künstlern – nie unvorbereitet, erinnert sich eine Frau aus dem Verein. „Sie war sehr misstrauisch, wollte vor Treffen oft alles über die Gesprächspartner wissen.“

Als 2018 ein Jacob-Böhme-Institut gegründet werden sollte, sei R. aus „Zeitgründen“ überraschend ausgetreten. Ihre Arbeit für Chrupalla erwähnte sie nicht. Ein anderes Mitglied behauptet, sie habe politische Manifeste für verschiedene Auftraggeber geschrieben. Die Texte gesehen hat jedoch keiner der früheren Mitstreiter.

Bei Tino Chrupalla hatte sich Claudia R. zwei Wochen nach der Bundestagswahl 2017 als „Büroleiterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin“ beworben. Die 43-Jährige schrieb: „Mit meiner psychologischen Sensibilität und meinem Gespür für die seelische Verfassung der Menschen in Deutschland möchte ich Sie gerne dabei unterstützen, erfolgreiche Reden zu halten, die das herrschende Meinungsklima nachhaltig verändern.“

Am 8. November dieses Jahres hält Tino Chrupalla eine Rede. Anlässlich des Mauerfalljubiläums und mit Blick auf Kanzlerin Angela Merkel spricht er von „Herrschafts- und Zersetzungsstrategien“, die sie bei der FDJ gelernt habe. „Agitations- und Propaganda-Kenntnisse“ seien wertvolles Wissen. In gemäßigten AfD-Kreisen gilt die Rede als Versuch, dem AfD-Flügel um Rechtsaußen Björn Höcke zu gefallen.

Chrupallas bisher größter Triumph: Am 30. November 2019 wurde er neben Jörg Meuthen zum Bundeschef der AfD gewählt.
Chrupallas bisher größter Triumph: Am 30. November 2019 wurde er neben Jörg Meuthen zum Bundeschef der AfD gewählt. © Julian Stratenschulte/dpa

Ähnliche Begriffe hatte Chrupalla nach Berichten der Sächsischen Zeitung am Jahresanfang über den AfD-Kreisparteitag in Niesky benutzt. Damals schrieb er einen Brief an seinen Kreisverband, den viele als „Maulkorberlass“ betrachteten. Niemand, außer den Chefs, solle mehr mit der Presse reden, hieß es. Von „Spaltungs- und Zersetzungsstrategie“, „Feindpropaganda“ und von „als Journalisten getarnten Zersetzungsagenten“ war darin die Rede.

Von Indien nach rechts außen

Claudia R. stammt aus einem Elternhaus in Südbaden. Ihr Vater ist ein pensionierter Lateinlehrer. Nach dem Abitur reist R. mit dem Rucksack durch Indien, begeistert sich für Hinduismus und Religionswissenschaften, bleibt dann mehr als ein Jahrzehnt an der Freien Universität Berlin. Mit 35 Jahren promoviert sie in Literaturwissenschaft über Gewalt in der englischen Literatur.

Ihr Doktorvater beschreibt Claudia R. als Menschen, der viele Ideen hatte. Sie habe sich ausprobiert, Gedichte und Liedtexte geschrieben, versucht, künstlerische Aktionen zu organisieren. Sie versuchte wohl, in der Kulturszene Fuß zu fassen. 2010 kuratiert R. eine Ausstellung bei Halle an der Saale, an der auch die slowenische Band Laibach beteiligt ist, die mit faschistoiden Elementen in der Musik und Nazi-Ikonografie in der Inszenierung provozieren.

Ein Pressefoto der Gruppe Laibach mit dem Titel "Monumental Retro Avantgarde". Wegen ihrer Symbolik wurden sie in Westeuropa häufig als neonazistisch angesehen, in den USA dagegen eher als kommunistisch.
Ein Pressefoto der Gruppe Laibach mit dem Titel "Monumental Retro Avantgarde". Wegen ihrer Symbolik wurden sie in Westeuropa häufig als neonazistisch angesehen, in den USA dagegen eher als kommunistisch. © Laibach/Pressefoto

Der Doktorvater erinnert sich an ihren letzten Besuch bei ihm. Mit Blick auf die mögliche Hinwendung zu rechtsradikalen Gedanken und mutmaßliche Kontakte zur Identitären Bewegung sagt der inzwischen emeritierte Professor: „Ich habe mit großem Bedauern beobachtet, wie sie sich in diese Richtung geäußert hat.“

Er habe sich gut mit ihr verstanden, ihr Promotionsprojekt spannend gefunden und sich dafür eingesetzt, dass sie einen Preis bekommt. „Diese bedauerliche Entwicklung kam später, es war ein allmählicher Prozess, und der Kontakt wurde immer diskontinuierlicher.“

Um den Jahreswechsel 2012/13 ist Claudia R. das erste Mal seit ihrer Jugend wieder auf dem Subkontinent. Als die Jobsuche in Indien scheiterte, sei sie enttäuscht gewesen, so der Doktorvater. In dieser Zeit sinniert Claudia R. im Netz über Hoffnungslosigkeit als kollektives Problem, über ihr „selbst verhängtes Exil“, sie hätte raus gemusst aus Deutschland.

2013 schrieb Claudia R. einen Selbsterfahrungs-Bericht für ein indisches Online-Medium.
2013 schrieb Claudia R. einen Selbsterfahrungs-Bericht für ein indisches Online-Medium. © Screenshot: SZ

„Wenn du beginnst, dich allein und traurig inmitten deiner Verwandten zu fühlen, muss etwas falsch sein.“ Sie schreibt über Eltern in Berlin, die ihren Kindern keine Werte und Grenzen vermitteln würden, über die EU als „totalitäres“ Europa, das wahre Multikulturalität zerstöre. Über angeblich fehlende Pressefreiheit in Deutschland. Im selben Jahr schreibt sie für eine badische Lokalzeitung.

Im Internet schreibt Claudia R.: Die deutsche Jugend sei die traurigste, vielleicht wegen der Kriegsschuld. Sie selbst habe glücklicherweise eine andere Option gefunden. Vielleicht ist diese „Option“ die Wahl eines Pseudonyms.

Denn jemand wie Lore Waldvogel kann schreiben, was andere öffentliche Personen mit einem Faible für Mystiker nie schreiben würden. In den folgenden Jahren entstehen unter dem Pseudonym immer mehr völkisch-nationalistische Texte für einschlägige Zeitschriften und Blogs.

Gemeinsamkeiten zwischen Claudia R. und Lore Waldvogel:

Claudia R: Hat einen Doktortitel in Literaturwissenschaft und einen Magisterabschluss in Literatur- und Religionswissenschaft.

Lore Waldvogel: Im mehrfach als antisemitisch bezeichneten "Occidental Observer" heißt es in der Autorenbeschreibung Lore Waldvogels: "Lore Waldvogel holds a Ph.D. in Literature and an M.A. degree in Religious Studies."

Claudia R: Schrieb im Studium mehrere Arbeiten zum Thema Carl Gustav Jung. Hielt an der Bibliothek des Konservatismus ein Blockseminar zum Thema Jung.

Lore Waldvogel: Waldvogel erster Text in "Sezession" aus dem Jahre 2015 trug den Titel "C.G. Jung und die Deutsche Seele".

Claudia R: War Mitglied der Jacob-Böhme Gesellschaft und schrieb mehrfach Texte über Böhme.

Lore Waldvogel: Twitterte insgesamt drei Mal über Jacob Böhme. Verfasste für "Sezession" am 30. Dezember 2016 einen Filmtipp: "Morgenröte im Aufgang – Hommage an Jacob Böhme."

Claudia R: Schrieb journalistische und wissenschaftliche Texte über Indien und den Hinduismus. War zwei Mal längere Zeit auf dem Subkontinent.

Lore Waldvogel: Bezieht sich in mehreren Kommentaren und Tweets auf Indien und den Hinduismus.

Claudia R: Organisierte für Tino Chrupalla eine Veranstaltung im Bundestag mit dem ehemaligen thüringischen Verfassungsschutzpräsidenten Helmut Roewer.

Lore Waldvogel: Schrieb für Sezession eine äußerst positive Besprechung von Helmut Roewers Buch "Unterwegs zur Weltherrschaft. Warum England den Ersten Weltkrieg auslöste und Amerika ihn gewann."

Claudia R: Hatte sich ihrem Doktorvater zufolge auf einer Indien-Reise für Religionen begeistert und studierte anschließend, neben englischer Philologie, Religionswissenschaft an der FU Berlin.

Lore Waldvogel: Bezeichnet sich im Podcast der Identitären Bewegung Berlin-Brandenburg selbst als "Religionswissenschaftlerin".

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Waldvogels erster Text in der Zeitschrift „Sezession“ erscheint im Dezember 2015. Das Magazin des Verlegers Götz Kubitschek versteht sich als Ideengeber der Neuen Rechten. Waldvogel beschreibt eine „Schwächung der deutschen Volksseele“, angeblich verursacht durch die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten.

Ein gutes Jahr später wird Björn Höcke in Dresden eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ fordern.

In „Sezession“ rezensiert Waldvogel 2016 auch ein Buch von Helmut Roewer, Ex-Verfassungsschutzchef in Thüringen. Darin schließt sie sich dessen Einschätzung an, dass „der Erste Weltkrieg ein von langer Hand geplanter Vernichtungsschlag gegen Deutschland“ gewesen sei.