Generationen-Projekt: Jung sucht alt für Leben

Dresden. Wie soll das nur gehen? Früher oder später stellen sich die meisten Menschen diese Frage. Dann, wenn ihre Eltern zu alt werden, um noch allein zu leben und ein Seniorenheim das Gegenteil vom Wunschtraum ist. Holger Stetzler ging es vor fünf Jahren so. Da wurde klar: Im eigenen Haus kann Mutter nicht bleiben. Was aber ist die Alternative, wenn die Versorgung daheim die ganze Familie überfordert?
"Inzwischen lebt meine Mutter im Betreuten Wohnen", sagt Holger Stetzler. Es ist herauszuhören, dass er damit nicht ganz im Reinen ist. Immer wieder beschäftigte ihn die Suche nach einer Idee, wie das Wohnen für alle schöner sein kann.
Darüber kam der Architekt mit Marion Kempe ins Gespräch. Ebenfalls Architektin, arbeitet sie im Bauforum Dresden, einem Verein, der alternative familienfreundliche und generationsübergreifende Baugemeinschaftsprojekte unterstützt. "Meine Eltern sind noch fit", sagt sie. Und doch gehört Marion Kempe nun auch zu einer zehnköpfigen Gruppe, die ein einmaliges Wohnprojekt plant. Anders als das Gros der zwischen 40- und 60-Jährigen sucht sie weder für sich noch für Angehörige nach einer Wohnalternative im Alter. "Aber man muss es einfach machen", sagt sie, "Weil der Bedarf steigt und weil es überfällig ist. So etwas, was wir vorhaben, gibt es in Dresden noch nicht."
Ähnlich wie in einer früheren Dorfgemeinschaft stellen sich die Planer ihr Wohnen der Zukunft vor: Menschen aller Altersgruppen leben in einem großen Objekt, das aus separaten Wohnungen in verschiedenen Größen, Gemeinschaftsräumen, einem sozialen Stützpunkt sowie Flächen für Dienstleistungen, Geschäfte und Kinderbetreuungsangebote besteht. Familien mit Kindern wohnen dort in enger Nachbarschaft mit jüngeren oder älteren Paaren, Alleinstehenden, mit Senioren und körperlich oder geistig Beeinträchtigten zusammen.
Vom Bälle- zum Pflegbad
"Einerseits suchen die Menschen Gemeinschaft und Gleichgesinnte in ihrer unmittelbaren Umgebung", weiß Marion Kempe, "Andererseits wünschen sich viele Kontakt zu anderen Generationen." Die Initiative "null bis hundert" bietet genau das: ein Dach, unter dem individuelles, soziales Zusammenleben, abgestimmt auf die Bedürfnisse von Kindern, Eltern, Singles, Alten und Pflegebedürftigen, möglich ist.
"Vom Bälle- bis zum Pflegebad", sagt Holger Stetzler lachend und spricht damit etwas an, was das Wohnprojekt zusätzlich besonders macht. Viele alte, oft verwitwete Menschen leben in viel zu großen Wohnungen. Sie würden gern umziehen, doch die Mietpreise, besonders in den Innenstädten sind gestiegen. Eine deutlich kleinere Wohnung kostet nicht unbedingt weniger Geld. Umgekehrt wollen Familien größer ziehen und finden keine bezahlbare Möglichkeit.
"Außerdem hat sich der Anspruch an die Größe der Wohnfläche verändert", sagt Marion Kempe. Heute soll jedes Kind sein Zimmer haben, Arbeits- und Gästezimmer, Fitness- und Werkstatt sind gewünscht. "Aber braucht wirklich jeder sein eigens Gästezimmer, seinen eigenen Sportraum?" Das Projekt "null bis hundert" soll private Wohnräume und Räume zur gemeinschaftlichen Nutzung beinhalten. Das macht das Wohnen preiswerter und bringt die Bewohner dort zusammen, wo sich Interessen treffen.
Dass Menschen mehrer Generationen zusammen wohnen, ist nicht neu. Verschiedene Baugemeinschaften haben das bezweckt. Doch Holger Stetzler und seine Mitstreiter gehen weiter: Sie verbinden das Wohnen mit einem integrierten Pflegestützpunkt, der die Versorgung der Mieter sichert, die im Alltag Hilfe benötigen.
Städtische Dorfgemeinschaft
Annett Hartmanns Tochter zum Beispiel. Sie ist jetzt 16 Jahre alt, und ihre Mutter hat Sorge, dass sie ganz allein im Leben nicht zurecht kommen wird. "Ihren Alltag würde Lena schon meistern, aber sie kann nicht lesen, schreiben und rechnen und bräuchte bei allem Hilfe, was das erfordert." Wohl wissend, dass sie als Eltern irgendwann als Begleiter ausfallen werden, sucht Annett Hartmann nach einem Wohnprojekt, das ihrer Tochter sowohl Eigenständigkeit erlaubt, als auch familiären Halt und professionelle Unterstützung gibt. Deshalb arbeitet die Logopädin im Projekt mit. Dass rund 30 Prozent der Mitbewohner aus sozial schwächeren Verhältnissen kommen sollen, macht ihr das Projekt noch sympatischer. "Abgesehen davon wohnen auch wir in einer Wohnung, die für uns viel zu groß sein wird, wenn alle Kinder aus dem Haus sind", sagt sie.
Rund 120 Personen sollen insgesamt im neuen Generationen-Komplex wohnen können. Dafür brauchen die Macher eine Fläche von 5000 bis 6000 Quadratmeter. Das kann freies Bauland sein oder auch bebautes Land, beispielsweise ein altes Betriebsgelände. Etwa 20 Millionen Euro werde es kosten, die moderne "Dorfgemeinschaft" zu errichten, rechnen die Planer. Heute passt der Begriff Genossenschaft besser. Jeder Mieter wird Mitglied und zahlt Anteile für seinen Wohnraum und für die gemeinschaftlich genutzten Flächen. Neben den Wohnungen, Gemeinschaftsräumen und dem Pflegezentrum gehören Läden, vielleicht ein Café, eine Kita und Dienstleistungsangebote zum Konzept. Sie könnten Arbeitsplätze auch für Senioren schaffen.
Von außen betrachtet kann das Mammutvorhaben "null bis hundert" durchaus beängstigen. Von innen heraus schauen die Beteiligten gelassener. "Rund die Hälfte der Akteure in unserer Gruppe haben Erfahrungen mit dem Bau eines eigenen Hauses oder dem Kauf einer Wohnung. Im Kleinen wissen sie also, wie es geht", sagt Holger Stetzler. Auch ist nicht angedacht, dass sich jeder neue Interessent mit eben so viel Zeit und Kraft in die Vorbereitung einbringt, wie diese drei. Die Grundpfeiler des Projektes stehen.
Gesucht und gewünscht aber sind Mitstreiter, die die Idee des gemeinschaftlichen Wohnens mit tragen. Solche, die den Kreislauf des Lebens nicht als Erschwernis, sondern als Wahlverwandtschaft begreifen.
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