Görzig 1945

Görzig. Mai 1945. Der Krieg ist zu Ende. Was in jenen Tagen geschah, ist gut von großen Städten oder auch noch von Kleinstädten wie Großenhain überliefert. Doch was passierte auf den Dörfern? Passierte dort überhaupt etwas? Hinweise aus jener Zeit gibt es zwar in Heinrich Stöckers Buch "Krieg, Pest und Brand im Großenhainer Land". Doch dort werden hauptsächlich Quellen aus dem Ostteil der Großenhainer Pflege genannt: Ponickau, Adelsdorf oder Ebersbach.
Laura Winkelmann ist in Görzig zu Hause. Der heutige Großenhainer Ortsteil gehörte 1952 kurzzeitig zum Kreis Riesa, dann aber zum Kreis Großenhain. 1945 lebten hier 295 Einwohner, davon 67 Flüchtlinge.
Die einzige sichtbare Erinnerung an die Zeit vor 75 Jahren ist ein Gedenkstein auf dem Friedhof. Hier sind auf einer Tafel 22 Opfer aus dem Zweiten Weltkrieg genannt: gefallene und vermisste Görziger. Diese Tafel ist erstaunlicherweise schon bald nach dem Krieg aufgestellt worden, so alte Görziger.
Von dieser Tafel wusste Laura Winkelmann kaum etwas, als sie vor fünf Jahren an der Schacht-Oberschule eine geschichtliche Hausarbeit schreiben sollte. Da war sie in der achten Klasse. "Wir sind erst zugezogen, das Thema zur Geschichte dieses Ortes hat mich deshalb besonders interessiert", sagt die heute 19-Jährige.
Ihre Oma Karin Beck, Inhaberin eines bekannten Bürogeschäftes in der Meißner Straße in Großenhain, ist seit Mitte der 90er Jahre Görzigerin und vermittelte ihrer Enkelin Hilfe.
Laura stöberte also nicht nur im Stadtarchiv und befragte den Großenhainer Stadtgeschichtenerzähler Klaus Hammerlik. Ihr erster Gang führte sie an die Kirche zu jener Tafel mit den 22 Namen.
"Was mir sofort auffiel, ist ein Unterschied der Inschriften zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg", sagt die heutige angehende Kinderkrankenschwester.
Während bei den acht Gefallenen von 1914 bis 1918 von "Unseren Helden" die Rede ist, fehlt diese Würdigung bei den Opfern von 1939 bis 1946. Tatsächlich steht hinter zwei Namen das Sterbejahr 1946.
Die Görzigerin steht nun erneut an dieser Gedenktafel und geht die Eingravierungen durch: Fünf Männer gelten als vermisst, der jüngste Gestorbene war erst 17 Jahr alt. Jener Manfred Vetter kam im März 1946 ums Leben.
Es waren Gefreite, Grenadiere, Schützen und ein Volkssturm-Mann, die ihr Leben ließen. "Jener Edwin Haase starb im September 1945 in Frankreich", hat Laura Winkelmann herausgefunden. Etliche andere kamen in Russland oder der Ukraine um. Viermal ist eine Kriegsgräberstätte als Begräbnisort genannt.
Nur noch die historische Schmiede besteht
Laura Winkelmann kennt manche Nachfahren dieser Männer. Doch die Namen auf der Erinnerungstafel sagen ihr nichts. Wäre sie alteingesessen, wäre das vielleicht etwas anderes.
"Auch wenn ich keine persönliche Beziehung zu diesen Leuten habe, geht mir ihr Schicksal doch nahe", sagt die junge Frau. Damals, als sie als 14-Jährige diese Arbeit verfasste, hätte sie sich natürlich vor allem Mühe gegeben, eine gute Leistung abzuliefern. Aber freilich hat sie auch manches dazugelernt.
Denn die Arbeits- und Lebensbedingungen in Görzig und den Nachbarorten nach Kriegsende darzustellen, war auch Teil ihrer Arbeit. Laura Winkelmann kann an kleine Gewerbebetriebe von damals erinnern: die Stickerei und Schuhreparatur von Max Schade, die Zementwarenherstellung seines Bruders Oswin, die Wassermühle von Hans Nakke, deren Reste mit dem Mühlgraben noch existieren, Helene Jeck als Schneiderin.
Auch die Gastwirtschaft von Alfred Burkhard, den Gartenbau von Walter Weiß und die Dorfschmiede von Arno Menzel in der Salzstraße. "Das waren noch Zeiten, als er den Pferden der Bauern neue Hufeisen anpasste", meint Laura Winkelmann. Dann kam die LPG, und mit der Technisierung wurde der Schmied eher zum Schlosser. Arno Menzel starb 1966. Doch seine Dorfschmiede ist heute ein kleines privates Museum.
Dann führt uns die junge Frau zum Neubaublock in der Straße Am Lindendreieck. Sie erzählt von Wohnungsnot nach dem Krieg, obwohl Görzig fast nicht zerstört war.
Der für ein Dorf ungewöhnliche Zweigeschosser mit vier Wohnungen gab Menschen ohne eigenes Haus und Hof ein Dach über den Kopf, allerdings erst 1973. "Als das Vorwerk Görzig, das zum Rittergut Zabeltitz gehörte, bei der Bodenreform aufgeteilt wurde, bekamen die Landlosen Acker für ihre Nahrungsgüter", weiß Laura.
Literaturtipp: "Einmarsch der Roten Armee in Großenhain und Aufbau der Verwaltung 1945", Heft 6 in der Reihe "Aus dem Großenhainer Land" von Kai-Uwe Schwokowski