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Goldgräberstimmung und Kater

Als vor 25 Jahren die DM-Mark kommt, brechen für die Bautzener Autohäuser goldene Zeiten an – allerdings nur kurz.

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© Kristin Richter

Von Miriam Schönbach

Unterm Stroh zogen Siegfried und Christine Kiethe die alte NSU aus dem Jahr 1929 in der Scheune vor Jahren hervor. Glänzend steht das Motorrad nun wieder im Autohaus auf der Löbauer Straße in Bautzen. Nachdenklich schaut der Seniorchef den Oldtimer aus einer anderen Zeit an. Dann sagt er: „Nach der Währungsunion 1990 landete viel zu viel auf dem Schrottplatz. Wir hatten hier Ersatzteile für 200 000 Ostmark liegen, eine DM waren sie dann noch Wert.“ Eine endlose Schlange bunter Autos flitzt an diesem sonnigen Sommernachmittag heraus aus der Stadt.

Siegfried Kiethe setzt sich auf einen Tisch, der sonst dem Autoverkäufer vorbehalten ist. Schräg gegenüber, dem heutigen Arbeitsplatz auf der anderen Straßenseite, eröffnete Vater Walter 1935 seine erste Autowerkstatt. Vier Gesellen und zwei Lehrlinge kümmern sich um die gängigsten Mobile Austro, Daimler und Steyr. Doch bald kommt der Krieg. Der Kfz-Mechaniker darf in der Heimat bleiben. Seine Mannschaft repariert Lkw für die Versorgung der Bevölkerung. Und auch nach dem 8. Mai 1945 ist er gefragt. Den ersten Laster macht er aus drei zerschossenen Fahrzeugen für die Molkerei wieder flott.

Die Reparatur von Lkw wird auch in der neugegründeten DDR das sichere Standbein des Kfz-Werkstatt Kiethe. „Wir haben 40 Jahre lang erst Phänomen,- und später Robur-Lkw wieder instand gesetzt. Seit 1950 befindet sich die Firma an diesem Platz hier. Es war eine Wiese mit Apfelbäumen“, sagt der gelernte Maschinenbauingenieur. Er steigt 1968 in den väterlichen Betrieb ein. Eigentlich will er seinen Senior nach einem Herzinfarkt nur kurz unterstützen und dann zu seiner alten Arbeit in den Motorenwerken in Cunewalde zurückkehren. Er bleibt für immer.

Der gebürtige Bautzener macht noch mal eine Lehre, setzt 1973 den Kfz-Meister obendrauf. Die Aufträge reißen nicht ab. In den meisten volkseigenen Betrieben rollen gleich mehrere Robur-Lkw. Für eine Generalüberholung macht die einzige Robur-Werkstatt im Kreis Bautzen Aufträge drei Jahre im Voraus. Eine solche Inspektion bekommt jeder Lkw mindestens dreimal im Leben. Neuwagen sind Mangelware. An vielen Tagen im Jahr stehen die Fahrer schon um 4 Uhr mit ihren kaputten Vehikeln an. Innerhalb einer Viertelstunde wechseln Kiethes Männer einen Motor. Einen solchen Ersatzantrieb gibt es im Lager für jeden vierrädrigen Patienten.

Zusammenhalt zählt

Bei Minusgraden, Schnee und mit dicken Stiefeln machen die zehn Mitarbeiter die Lkw wieder genauso flott wie bei heißem Sonnenschein. Im Notfall helfen sie sogar im Bautzener Ableger des Robur-Werks aus, wenn wieder Laster zusammengeschraubt werden müssen. Auch die 40 privaten Autowerkstätten, die PGH und der VEB Autoreparatur unterstützen sich jederzeit untereinander. Siegfried Kiethe ist damals Obermeister der Kfz-Berufsgruppe. Innungen darf es in der DDR nicht geben. „Wir haben wie Pech und Schwefel zusammengehalten“, sagt der Kfz-Meister. Doch Mitte der 1980er Jahre merkt auch er, dass die Ersatzteilsituation immer schlechter wird. Das Ende der DDR ist zum diesem Zeitpunkt schon nicht mehr aufzuhalten.

Mit dem Fall der Mauer reisen auch die ersten Bautzener gen Westen und drücken sich an den Scheiben der Westautohäuser die Nasen platt. Wenig später kehren viele von ihnen mit alten, überteuerten Rostlauben zurück an die Spree. Gleichzeitig bemühen sich die alten Kfz-Werkstätten um neue Partner in Westdeutschland. Oder besser anders herum. Die Vertreter großer Autohersteller ziehen gen Osten. „Etwa die Hälfte der selbstständigen Kfz-Meister holten sich einen Vertrag mit den bekannten Marken“, sagt Siegfried Kiethe.

Der ehemalige Roburvertragshändler unterschreibt bei Mitsubishi, weil der japanische Fahrzeugbauer Lkw im Verkauf hat. Voraussetzung für eine Zusammenarbeit sind aber Investitionen in neue Technik, wie Hebebühnen, und der Neubau eines Autohauses. 350 000 Mark projektiert damals der Architekt. Die Volksbank legt noch mal 100 000 Mark oben drauf. Kredite sind kein Problem. Am 10. März 1990 geht die ehemalige Genossenschaftskasse für Handwerk und Gewerbe in dem neuen Geldinstitut auf. Vorher gibt es im Saal der „Krone“ noch eine letzte Versammlung. Die Handwerker diskutieren darüber, wie es in der Marktwirtschaft weitergehen kann. Viele gehen danach ihre eigenen Wege. Das einstige Wir-Gefühl verschwindet.

Jeden Tag ein Auto

Stattdessen rollen mit dem neuen Westgeld die ersten Transporter voller Neuwagen an. Der 75-Jährige schaut auf die Straße. „Die Leute hielten sich an den Griffen fest. Und sagten immer: Den geben wir nicht mehr her“, sagt Siegfried Kiethe schmunzelnd. Bis zu 250 neue Autos wechseln damals pro Jahr den Besitzer, das heißt fast täglich geht jemand mit einem Autoschlüssel aus dem Autohaus. Mitsubishi schafft es nicht, genügend Fahrzeuge zu liefern. Etwa zwei Jahre vorher beschließt das Unternehmen das Kontingent für Deutschland. Dass die DDR ihre Mauern öffnet, konnte niemand vorhersehen.

Siegfried Kiethe schaut sich im 1992 eröffneten Autohaus um. Zehn Mitarbeiter beschäftigt das Unternehmen. „Diese Marktwirtschaft fühlte sich wunderbar an. Die Ernüchterung kam, als die ersten Kunden ihre Rechnungen nicht mehr bezahlten. Das kannten wir gar nicht“, sagt der Seniorchef. Ein schwerer Moment wird, als er alle mühsam aufgearbeiteten und nagelneuen Robur-Ersatzteile auf den Schrottplatz bringt. Es ist gut, dass er in diesem Augenblick allein ist. Doch für langanhaltende Wehmut bleibt bei der Goldgräberstimmung keine Zeit. Erst im Rückblick macht sich der „Kater“ breit.